Waldstadt
Sie mir, warum?« Joseph Freitag ließ sich zu Boden sinken, zog die Knie an und begrub sein Gesicht in den verschränkten Armen. Lindt setzte sich einfach neben ihn. »Ich weiß es nicht. Wir alle wissen es nicht. Es gibt keinen Sinn«, antwortete er nach einer Weile ganz leise.
Sie saßen eine Viertelstunde nebeneinander. Respektvoll hielten alle Abstand.
Zwischenzeitlich wurde großräumig mit rot-weißem Band abgesperrt und die Spurensicherung begann ihre Arbeit. Der Kommissar bemerkte alles nur am Rande. Erst als eine freundlich dreinblickende Frau auf die beiden zutrat, schaute er hoch. »Annette Mannheimer, ich bin Pfarrerin und komme vom Notfallnachsorgedienst. Darf ich?«
Erstaunt schauten beide hoch. Lindt machte Platz und sie setzte sich neben Joseph Freitag auf den weichen Waldboden.
Steifbeinig ging der Kommissar weiter. Paul Wellmann kam ihm entgegen. »Kennt ihr euch?«
Lindt nickte. »Wohnt ganz in unserer Nähe, zwei Kinder, Professor, Stadtrat.«
»Dann kennst du auch die Frau. Kannst du hin?«
Der Kommissar zuckte mit den Schultern. »Ich werd müssen« und stapfte hinter seinem Kollegen drein.
Ein paar Quadratmeter waren frei zwischen den wilden Traubenkirschen. Ringsum war alles dicht. Voll belaubt schien es undurchdringlich.
»Kein Zufall, genau geplant, dieser Platz hier wurde gezielt ausgewählt«, analysierte Jan Sternberg.
Ira Freitag trug weiße Laufschuhe, schwarze enganliegende Leggins und ein langärmeliges Funktionsshirt. Sie lag auf dem Rücken, der Notarzt hatte ihr die Augen zugedrückt. Ihre langen feingliedrigen Finger waren zu Fäusten geballt. Bis auf den dunkelroten Ring am Hals gab es auf Anhieb keine weiteren Verletzungen zu sehen. Eine deutliche Schleifspur führte von der Allee bis zum Fundort.
Lindt wandte sich ab. Die Grenze dessen, was er zu ertragen vermochte, war überschritten. Er fühlte es. Zu viel, über seine Kraft.
Ohne auf die Richtung zu achten, ging er weiter. Tiefer ins Innere des Waldes. Langsam, Schritt für Schritt, wie wenn irgendetwas ihn wegschieben würde. Fort von Ira Freitag, weg von der Leiche, vom fünften Opfer.
Wellmann und Sternberg schauten ihm nach, wie er das Absperrband überstieg.
»Soll ich?«, fragte Jan.
»Lass ihn. Hier verläuft er sich nicht.«
In einer Partie mit weniger Unterwuchs blieb Lindt stehen. Er schaute nach oben in die hellgrünen Kronen der alten schrägen Kiefern. Sie waren licht, diese Charakterbäume des Hardtwaldes. Die Sonnenstrahlen drangen überall durch. Der Himmel schimmerte im schönsten spätsommerlichen Hellblau.
Er wusste nicht mehr, wie lange er an einem der grobborkigen Bäume lehnte. Eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Ob er es selbst schaffte, sich aus diesem tiefen Loch herauszuziehen? Vielleicht brauchte er professionelle Hilfe.
Darüber reden. Half das wirklich? Mit Carla? Mit Paul? Mit Eschenberg? Keine Ahnung.
Trotzdem kehrte er um. Zurück, er durfte sich nicht so hängen lassen, schließlich war dort vorne seine Arbeit.
Die verbalen Peitschenhiebe von Oberstaatsanwältin Lea Frey klingelten ihm schon jetzt im Ohr.
Vielleicht sollte er sich einfach ablösen lassen. Die Öffentlichkeit wäre bestimmt zufrieden. ›Ein junger dynamischer Kommissar führt die Ermittlungen weiter‹, würde sie bei der Pressekonferenz mit ihrer blechernen Stimme verkünden und die Kommentare der Tageszeitungen würden ihr recht geben. Neue Besen …
Eine vertraute Gestalt hellte seine Stimmung schlagartig auf. Nicht die ›Eiserne Lea‹, sondern den ›Kurzen‹ erkannte er. Tilmann Conradi, der kleine nette Staatsanwalt, eindeutig Lindts Favorit in dieser Behörde und zudem auch sein Nachbar. Nur wenige Häuserblocks entfernt, wohnte er ebenso in der Waldstadt.
Sie gaben sich stumm die Hände. Conradi schaute den altgedienten Kommissar an. »Es geht Ihnen nahe, ich sehe es. Können Sie trotzdem weitermachen?«
»Soll ich denn überhaupt?«
»Wer sonst?«
Die Sonderkommission trat am Nachmittag zusammen. Oskar Lindt trug gemeinsam mit Tilmann Conradi die aktuelle Lage vor. Den sensiblen Staatsanwalt an seiner Seite zu wissen, bedeutete ihm sehr viel. Gegenseitige Achtung und Anerkennung der Leistungen des Anderen waren die Basis ihrer langjährigen Zusammenarbeit. Im Lauf der Jahre hatte sich daraus ein schon fast freundschaftliches Verhältnis entwickelt – dennoch bestand immer noch die notwendige Distanz.
»Die Frau Oberstaatsanwältin weilt auf Island«, flüsterte
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