Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
zu liegen, so dass dieser sich nicht erheben konnte. Vergebens mühte sich Thialfi, der inzwischen seinen Gegner erlegt hatte, ihm zu helfen, vergebens auch alle herbeigeeilten Asen. Nur Thors Sohn, Magni, der doch erst drei Winter alt war, konnte es; der Knabe meinte lachend, mit der Faust hätte er den Riesen erschlagen. Da fuhr Thor heim, aber der Stein stak noch in seinem Haupt. Eine Zauberin Grôa, die Mutter Örwandils, des Kecken, ward geholt; sie sang ihre Zauberlieder über seinem Haupt und schon lockerte sich der Stein. Da wollte Thor ihr danken durch die frohe Kunde, er habe von Norden her über die Eli-wagar watend ihren Sohn in einem Korbe aus Riesenreich davongetragen (der also, müssen mir annehmen, dort gefangen gehalten worden war). Als Wahrzeichen gab er an, Örwandil habe sich eine aus dem Korbe hervorragende Zehe erfroren, Thor habe sie abgebrochen und sie an den Himmel geworfen, wo sie zu dem Sternbild "Örwandils-Zehe" geworden sei; Örwandil selbst werde nun bald kommen. Darüber freute sich Grôa so sehr, dass sie ihrer Zauberlieder vergass – und so steckt heute noch der Stein im Haupte Thors [Fußnote: Darum soll man solche Steine nicht zum Wurf brauchen, sonst rührt sich (schmerzend) der Stein in Thors Haupt; darf man das so deuten; die zur Schärfung der Pflugschar und andrer Eisengeräte unentbehrlichen Wetzsteine sollen nicht achtlos verschleudert werden?] .
Diesen Mythus hat Uhland wunderschön gedeutet: Hrungnir, ganz von Stein, ist die dem Anbau widerstrebende Steinwelt (von at hruga, aufhäufen, also das hoch übereinander getürmte Felsgebirge); "Grot-tuna-gardr", der Ort des Kampfes, ist die Grenze zwischen Steingebild und Bauland; denn grot "Gries" ist Geröll, tun, Zaun, gardr, Gehege; Thialfi ist die menschliche, bäuerliche Kraft, diese ist gewöhnt, von unten herauf das Gebirge zu bearbeiten; aber Asathor fährt von oben einher. Mit dem langen, breiten Lehmstreifen, der wenig widerstandsfähig ist, d. h. mit Möckurkalfi, wird auch Menschenkraft fertig; die Steingebirge zerschmettert nur der Gewittergott. Der stürzende Riese begräbt beinahe Thor selbst; verschüttende Bergstürze, Thors eignes Werk, bedrohen das Bauland; gerettet wird er durch seinen obzwar noch ganz jungen Sohn Magni; die personifizierte Willenskraft der Asen; das Stück Gestein, das in Thors Haupte stecken bleibt, ist das Gestein, das auch im urbaren Feld der Pflug oft noch findet. Grôa (vgl. neuenglisch to grow) ist das Wachstum, das Saatengrün, welches vergeblich bemüht ist, jene Steine zu überdecken, Thors Wunden zu heilen; der Sohn Ör-wandil (der mit dem Pfeil, Ör, arbeitende) ist der spitze Fruchtkeim, der aus der Saat emporstreben und aufschiessen will. Thor trägt ihn über die Eisströme im Korb; d. h. er hat das keimende Pflanzenleben unter der schützenden Schneehülle vor der Winterkälte geborgen; aber "allzu keck" hat der Keim eine Zehe vorgestreckt und sie erfroren [Fußnote: Des Riesen erbeutetes Ross schenkt Thor seinem Sohne Magni zur Belohnung; es heisst Gul-faxi, "Goldmähne"; darf man deuten; der fleissigen Kraft gibt der Gott des Ackerbaues das goldig-wogende Ackerfeld zum Lohne?] . In der Heldensage ist Thor zu Dietrich von Bern geworden; daher steckt in Dietrichs Stirn seitdem ein Stein wie in Thors Haupt. Örwandil aber wird zu dem Orendel der Heldensage, der ist der "älteste aller Helden".
Thor ward als Blitzschleuderer, als Donnerer von Römern, Griechen und andern Fremden, ja im deutschen Mittelalter auch von unserm Volk vielfach mit Jupiter-Zeus verwechselt; so heisst der Donnerstag im Latein des Mittelalters "dies Jovis", die zu Geismar von Winfried zerstörte Donnerseiche "robur Jovis", die vielen Donnersberge "montes Jovis", die Pflanze Donnerbart "barba Jovis".
Aber auch als Herkules ward Thor aufgefasst wegen des der Keule entsprechenden Hammers, mehr noch wegen seiner Fahrten, in welchen er als Beschirmer des Menschen gegen riesische Ungetüme auftritt. Wie es nun des Herkules meist bewunderte Tat war, dass er in die Unterwelt eindrang und dort den Höllenhund Cerberus bezwang, so ist auch Thor sieghaft in die Unterwelt hinabgestiegen.
Mit Loki und dem getreuen Thialfi wanderte er einmal ostwärts gegen Riesenheim; in einem grossen Walde nahmen sie Nachtlager in einer leeren Hütte. Um Mitternacht entstand ein Erdbeben; die Hütte schwankte; sie flüchteten in einen Anbau der Hütte. Bei Tagesanbruch fanden sie im Wald einen Mann liegen, der war nicht klein.
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