Wall Street Blues
halb auf und saß nun mit gekreuzten Beinen in meditativer Haltung da. Sie schloß die Augen und atmete tief über den Bauch.
Denke angenehme, ruhige Gedanken, befahl sie sich.
Ob der Schlüssel unter die Kommode gerutscht war? Aha! Sie preßte sich flach an den Boden. Es war eine Leistung, die keine geringe körperliche Anstrengung verlangte. Tastend schob sie eine Hand in den schmalen Zwischenraum unter dem Boden der bemalten Bauernkommode. Für ihre Mühe wurde sie mit ein paar Staubbällen belohnt.
»Igitt, und vielen Dank. Ich brauche nicht daran erinnert zu werden.« Sie zog sich wieder in ihre hockende Haltung hoch, wobei jede Bewegung eine Qual war. Denk nach. Noch ein toller Einfall. Die Taschenlampe. Es dauerte wieder eine Ewigkeit, bis sie sich zum Wäscheschrank geschleppt hatte, wo sie die Taschenlampe aufbewahrte. So Gott wollte, waren die Batterien noch gut. Sie taten ihr den Gefallen.
Zurück zur Kommode. Sie legte sich wieder lang auf den Boden, leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung unter der Kommode und spähte hinein, die Wange auf dem kalten Boden. Da war er, ganz hinten glitzernd mitten in einer Staubkugel. Sie stand auf, zog ein paar Papiertücher aus der Schachtel neben dem Bett und versuchte dann, die Kommode von der Wand abzurücken.
Die Rückenschmerzen waren unerträglich. Ihr Kopf brachte sie fast um. Sie würde Sonya morgen anrufen, um ihren Rücken bearbeiten zu lassen, aber jetzt wollte sie den verdammten Schlüssel haben und für diesen Tag Schluß machen. Oder vielmehr für diese Nacht.
Mit einem heftigen Ruck gelang es ihr, die Kommode ein Stückchen zu bewegen. Es reichte. Da lag der kleine Schlüssel fast versteckt in den Staubklumpen. Ganz, ganz langsam ließ sie sich auf die Knie sinken, anstatt sich aus der Hüfte heraus zu bücken. Sie hob den Schlüssel auf, dann faßte sie mit den Papiertüchern die Staubbälle und warf sie in den alten kupfernen Suppentopf, den sie als Papierkorb verwendete.
Der Schlüssel auf ihrer Handfläche sah so klein wie ein Briefkastenschlüssel aus. Er war messingfarben und hatte ziemlich rechtwinklige Zähne. Sie steckte ihn wieder in das Streichholzheft, wo er wer weiß wie lange gelegen hatte. Sie war sich absolut sicher, daß weder das eine noch das andere gestern morgen in ihrer Jackentasche gewesen war, weil sie ihre Taschen immer leerte, bevor sie etwas in den Schrank hängte. Folglich mußte es im Lauf des Tages hineingesteckt worden sein. Gestern.
Sie erinnerte sich, wie eng Barry sie am Ellbogen geführt hatte, als sie die Treppe zum Balkon im Four Seasons hinaufgegangen waren. Er hätte es dabei in ihre Tasche schummeln können. Sehr leicht sogar.
Sie legte das Streichholzheft auf den Nachttisch. Sie würde morgen darüber nachdenken. Heute nacht konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie hob die Handtasche auf und überlegte, ob sie eine von den Aspirintabletten nehmen sollte, die der Arzt ihr mitgegeben hatte, entschied sich aber dann dagegen und hängte die Tasche an den Türgriff. Sie machte das Licht aus, kroch wieder ins Bett und schlüpfte unter die Decke. Sie atmete zwei oder dreimal tief durch und schlief ein.
Dann war sie auf einmal im Saal der New Yorker Aktienbörse und dachte, was zum Kuckuck habe ich hier verloren'? Aber alle riefen durcheinander, und niemand schien auf sie zu achten.
Sie trug immer noch das graue Nadelstreifenkostüm, und ein Mann kam auf sie zu, ein Namensschild am Revers, der eine extragroße, tropfende Eistüte in der Hand hielt. Als er näher kam, sah sie, daß es Erdbeereis war. Wer ißt noch Erdbeereis? dachte sie. Und was tut er überhaupt im Börsensaal mit so einer Riesentüte Eis? Sie war sicher, daß es nicht erlaubt war. Und während sie dies dachte, stieß er mit ihr zusammen, und das Erdbeereis fiel als rote Kugel auf die linke Seite ihrer Kostümjacke.
»Sie durchsuchen Ihre Turnsachen?« sagte er und zwinkerte ihr vertraulich zu. Er wirkte ehrlich empört, während er seinen weißen Kittel auszog. Warum trug er einen weißen Kittel? Er begann, das Erdbeereis über ihre Brust zu schmieren. Sie stieß ihn von sich, aber sie wurden von der wogenden Menschenmenge um sie herum, die Börsenkurse schrien und Arme in die Luft reckten, immerzu hin und her geschubst.
Sie fand die Geschäftigkeit im Börsensaal normalerweise sehr anregend, jedoch nicht heute. Heute war sie sehr ärgerlich. Sie wußte nicht, was sie dort zu suchen hatte, und jetzt hatte sie ihre Kleider
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