Wall Street Blues
Sie wirkte so vernünftig, besonders in kritischen Momenten.
»Ich rufe ihn an. Du gehst dein Gesicht waschen und dein Make-up auffrischen.«
Smith summte vor sich hin, während sie Leon Ostrows Büro anwählte. Wetzon sah, daß sie sich jetzt viel besser fühlte, wo sie selbst die Entscheidungen traf. Es bekam ihr nicht gut, wenn sie vom Leben eines anderen mitgerissen wurde.
»Ach, das hätte ich fast vergessen«, flüsterte Wetzon. «Sieh dir das mal an.« Sie legte den Artikel im Journal über Kaplan, Moran, auf Smith’ Schreibtisch. »Das ist die Sache, von der Barry mir erzählen wollte, nur sprach er, glaube ich, von Jake Donahue.«
Smith starrte sie an, dann warf sie einen abwesenden Blick auf die Zeitung. Sie legte einen Finger an die Lippen. »Ah, ja, ist Leon da?« sagte sie zuckersüß ins Telefon. »Ja, Xenia Smith. Hallo, Tagchen, altes Haus. Wie geht es Ihnen? Ich weiß.« Sie wurde kühl und geschäftsmäßig. » Jeder hat sie erkannt. Nein, es geht ihr gut. Nein, ich habe Ihren Anruf nicht bemerkt, wir hatten so viele Anrufe heute morgen. Hören Sie, Leon, wir haben uns überlegt, ob Sie nicht vielleicht mit uns zu Mittag essen könnten. Wir sind so gegen vier mit dem Detective, der den Fall bearbeitet, verabredet. Paßt ein Uhr? Café 58. Bis dann... Was?« Sie sah erschrocken aus. Sie starrte Wetzon an. »Wirklich? Wie interessant. Wir können darüber sprechen, wenn wir uns sehen, Zuckerstück.« Sie legte auf.
»Was hat Leon gerade noch gesagt?« wollte Wetzon wissen.
»Sekunde.« Smith rief zu Harold durch.
»Ja, Smith.« Er klang gequält.
»Bitte eine Reservierung für drei um ein Uhr im Café 58.«
»Ihr werdet mich doch nicht allein lassen mit den ganzen Anrufen? Was ist, wenn die Telefone gleichzeitig läuten und mir ein paar Anrufe entgehen?« Er jammerte schon wieder.
»Du machst es, so gut du kannst. Du bist auch früher schon allein zurechtgekommen. Das ist heute nicht anders. Führ dich nicht auf wie ein Säugling«, sagte sie eisig.
»Gut, Smith, tut mir leid. Mann, ich hab’s nicht so gemeint. Das weißt du. Smith, Bailey Balaban hat mir gefallen.«
»Wer ist Bailey Balaban?«
»Der sich als Kundenwerber bei uns vorgestellt hat. Mit dem ich gesprochen habe. Er ist eben weggegangen.«
»Okay, wir reden morgen darüber und machen mit ihm einen Termin für nächste Woche aus.« Sie sah Wetzon an. Wetzon nickte. »Haben wir noch Termine, die heute bestätigt werden müssen, Harold?«
»Ja. George Mallow bei Alex Brown, nach Schluß, um halb fünf.«
»Gut, du kümmerst dich darum. Und rufe Monahan an und frage, warum er den zweiten Termin verpaßt hat. Aber denk zuerst an den Tisch.«
»Okay.«
Smith schaltete die Sprechanlage ab. »Ich weiß nicht, was wir mit ihm machen sollen.«
»Er fühlt sich ausgeschlossen.« Wetzon stand mit dem Rücken zu Smith und betrachtete ihren hübschen, sonnigen Garten mit den gußeisernen Stühlen. Es schien so lange her zu sein — und dabei war es erst gestern gewesen — , daß die Gartenmöbel geliefert worden waren.
»Was geht es uns an, wie er sich fühlt«, sagte Smith. »Es liegt an ihm, sich uns anzupassen.«
»Was sagt Leon, was so interessant ist?« Wetzon drehte sich nach Smith um.
»Ach, nichts Besonderes«, meinte Smith beiläufig. Dann kam eine lange Pause. Nachdem Wetzon sich wieder dem Garten zugewendet hatte, schob Smith nach: »Nur, daß er Jake Donahue vertritt.«
E s waren nur neun Straßen bis zum Café 58, einem kleinen französischen Restaurant gerade um die Ecke der Second Avenue, deshalb gingen sie zu Fuß die Second Avenue hoch. Es war ein herrlicher Frühlingstag.
Sie gingen oft ins Café 58, weil man dort gut aß und noch besser bedient wurde. Es strahlte Gemütlichkeit aus — sein Bemühen um East Side-Schick, dem die unpassenden Polster in rotschwarzem Hahnentrittmuster auf den Bänken und Stühlen, vermutlich das Überbleibsel einer früheren Inkarnation unter derselben Adresse, einen Strich durch die Rechnung machten.
Sie wurden überschwenglich begrüßt, als sie, Smith voran, hinkamen. Der scharfe Kontrast zwischen dem grellen Sonnenlicht und der gedämpften Beleuchtung machten Wetzon benommen, und sie mußte sich an dem warmen, glatten Holz der Bar festhalten.
»Guten Tag, Mesdames.« Der Oberkellner verbeugte sich. »Einen Tisch für drei heute... ist dieser dort in der Ecke recht?« Er wußte, daß sie dort am liebsten saßen, deshalb war es im Grunde eine Farce, aber sie spielten sie
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