Wall Street Blues
Ich bekomme nie eine direkte Antwort, aber ich kenne sie: »Mehr, mehr, mehr, soviel ich kriegen kann.« Sie machte eine Pause. »Und wenn es mein Tod ist.«
Der Stenograf sah auf.
Silvestri starrte sie an. »Du lieber Gott«, sagte sie, »tut mir leid, ich rede mich anscheinend ein bißchen in Rage. Sehen Sie, was Sie da in Gang gebracht haben.« Sie lächelte ihn reumütig an.
»Ich verstehe nicht viel vom Aktienmarkt«, sagte Silvestri. »Mir ist das immer wie ein Würfelspiel vorgekommen.«
Sie lächelte ihn wieder an. »Es ist ein Geschäft, bei dem die meisten Leute — auch die ganz oben — den schnellen Dollar suchen, den großen Reibach. Ich wiederhole mich, aber es geht um Geld. Es geht um Gier.«
»Hat die SEC nach dem Crash von 87 nicht alle möglichen Kontrollen und Maßnahmen zum Gegensteuern eingeführt?«
»Sicher, aber man kann Gier nicht per Gesetz abschaffen. Ich bin davon überzeugt, daß Sie jederzeit darauf stoßen.«
»Sie müssen gut in Ihrem Beruf sein«, sagte Silvestri und zeigte dunkelumrandete türkise Augen.
Sie wog es ab. »Ja, das bin ich. Sie sollten einmal hören, wie diese Leute vom Geld reden. Der große Reibach. Barry Stark hielt immer danach Ausschau.«
»Berichten Sie von Ihrem Treffen gestern abend.«
»Er hatte etwas Verspätung, und er machte einen nervösen, fast verzweifelten Eindruck. Er redete immerzu von Repos.«
Silvestri sah sie fragend an.
»Rückkaufabsprachen«, sagte sie geduldig. »Ich wußte es auch nicht. Er erklärte es mir. Es ist eine finanzielle Transaktion — in diesem Fall mit Bundesanleihen. Es ist ziemlich heikel, und es klang so, als wäre er in ein Abstimmungsproblem gestolpert.«
»Abstimmung?«
»Abstimmung mit der SEC und den Bundesgesetzen. Jede Firma hat eine Rechtsabteilung, um sich gegen falsche Schritte abzusichern. So ähnlich wie innere Angelegenheiten in der Polizeibehörde.«
Silvestri nickte.
»Es hörte sich an, als wäre Barry auf eine Sache gestoßen, mit der er ausnahmsweise nicht fertig wurde.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, daß ich müde bin«, sagte sie abgespannt, »deshalb sage ich Ihnen, es ist ein Hurengeschäft. Die Leute tun alles für Geld, einschließlich Gesetze übertreten, wenn sie glauben, ungestraft davonzukommen, einschließlich Informationen weitergeben oder verkaufen, riskante Aktien an die eigenen Großmütter verkaufen. Alles. Und Barry war keiner, der sich über ein kleines illegales Geschäft aufgeregt hätte.«
»Also?«
»Also muß dieses Problem, über das er gestolpert war, lebensgefährlich gewesen sein. Er hatte Angst.«
»Gut, was passierte, als er wegging?«
»Er sprang auf, sagte, er müsse telefonieren, er habe etwas vergessen und komme gleich wieder. Dann ging er weg, praktisch im Laufschritt. Das war alles.« Sie bekam es langsam über, es zu wiederholen.
»Und was machten Sie?«
»Ich wartete. Ach ja, und als ich die Beine unterm Tisch ausstreckte, stieß ich an seinen Diplomatenkoffer. Sonst hätte ich gar nicht mehr daran gedacht. Ich wartete ungefähr zwanzig Minuten oder so. Ich wurde langsam gereizt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihn so lange aufhielt, und ich wollte nach Hause. Also zahlte ich die Rechnung und nahm den Koffer mit nach unten zu den Telefonzellen. Ich wollte ihm sagen, daß ich nicht länger warten könne, weil ich noch eine andere Verabredung hätte.«
»Sahen Sie jemand hinter ihm her die Treppe runtergehen?«
»Niemand Bestimmtes. Es gingen ununterbrochen Leute rauf und runter.«
»Sahen Sie jemand in der Nähe der Telefonzellen, als Sie hinkamen?«
»Nein.«
»Was machten Sie dann?«
»Ich ging direkt auf die Zelle zu, in der Barry mit jemand zu sprechen schien. Er war ganz zusammengekrümmt über dem Hörer.«
»Sie konnten nicht erkennen, daß etwas mit ihm nicht stimmte?«
»Nein.«
»Meinten Sie nicht, daß er in einer eigenartigen Haltung dastand?« Silvestris Stimme klang skeptisch. Vielleicht war sie wirklich zu sehr von eigenen Gedanken in Anspruch genommen. Sie hätte bemerken müssen, wenn sie jetzt darüber nachdachte, wie komisch Barry ausgesehen hatte, so zusammengekrümmt. Sie zuckte die Achseln.
»Ich kann nicht erklären, warum ich nicht mißtrauisch wurde, außer daß ich noch nie einen Toten gesehen hatte, geschweige denn einen Ermordeten.«
»Okay, und weiter?«
»Den Rest kennen Sie.«
»Berichten Sie.«
Sie schauderte, machte es noch einmal durch. »Ich klopfte an die Scheibe, um ihn auf mich aufmerksam
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