Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
über das Ermittlungsmaterial gebeugt, kam Rydberg unerwartet in sein Zimmer. Er setzte sich auf den Stuhl am Fenster und erzählte ohne Umschweife, daß man bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert hatte. Er würde jetzt zur Strahlen- und Chemotherapie eingewiesen werden, was sowohl eine langwierige als auch mißglückende Angelegenheit werden konnte. Er ließ kein Mitleid zu. Er war nur gekommen, um Kurt Wallander an die letzten Worte der verstorbenen Maria Lövgren zu erinnern. Und an die Schlinge. Dann erhob er sich, gab Kurt Wallander die Hand und ging.
Kurt Wallander war allein mit seinem Schmerz und seinen Ermittlungen. Björk war der Meinung, daß er die nächste Zeit ruhig allein arbeiten sollte, weil die Polizei sowieso mit Arbeit überlastet war.
Den restlichen März über geschah nichts. Auch nicht im April.
Die Berichte über Rydbergs Gesundheitszustand waren wechselhaft. Ebba war die regelmäßige Botin.
An einem der ersten Maitage ging Kurt Wallander zu Björk hinein und schlug vor, daß ein anderer die Ermittlungen übernehmen sollte. Aber Björk weigerte sich. Kurt Wallander sollte mindestens noch bis zum Sommer und zu den Ferien weitermachen. Dann konnte man eine Neubewertung der Situation vornehmen.
|305| Er fing immer wieder von vorne an. Machte seine Rückzüge, drehte und wendete das Material in alle Richtungen, versuchte es zum Leben zu erwecken. Aber die Steine unter seinen Füßen blieben kalt.
Anfang Juni tauschte er den Peugeot gegen einen Nissan ein. Am 8. Juni ging er in Urlaub und fuhr nach Stockholm, um seine Tochter zu besuchen. Zusammen fuhren sie dann bis zum Nordkap hinauf. Herman Mboya war zu Hause in Kenia, würde aber im August zurückkehren.
Montag, den 9. Juli, war Kurt Wallander wieder im Dienst. In einer Anweisung Björks konnte er lesen, daß er mit seiner Ermittlung weitermachen sollte, bis Björk Anfang August wieder aus dem Urlaub zurück war. Dann würden sie entscheiden, was zu tun war.
Von Ebba wurde er mit der Botschaft begrüßt, daß es Rydberg bedeutend besser ging. Vielleicht würde es den Ärzten trotz allem gelingen, seinen Krebs zu besiegen.
Dienstag, der 10. Juli, war ein schöner Tag in Ystad. Zum Mittagessen ging Kurt Wallander ins Zentrum und schlenderte herum. Er ging in das Geschäft am Marktplatz und entschied sich fast für eine neue Stereoanlage.
Dann erinnerte er sich daran, daß er noch ein paar norwegische Geldscheine im Portemonnaie hatte. Sie waren von der Reise ans Nordkap übriggeblieben. Er ging zur Raiffeisenbank und stellte sich in die Schlange vor der einzigen Kasse, die geöffnet war.
Die Frau am Schalter erkannte er nicht wieder. Es war weder Britta-Lena Bodén, das Mädchen mit dem guten Gedächtnis, noch eine von den anderen Kassiererinnen, die er früher schon getroffen hatte. Er dachte, daß es sich um eine Urlaubsvertretung handeln mußte.
Der Mann, der vor ihm stand, hob eine große Summe Bargeld ab. Zerstreut dachte Kurt Wallander darüber nach, wozu soviel Bargeld wohl gebraucht wurde. Während der Mann seine Geldscheine noch einmal durchzählte, las Kurt Wallander |306| seinen Namen auf dem Führerschein, den er neben sich auf den Schalter gelegt hatte.
Dann war er an der Reihe und tauschte sein Geld. Hinter sich hörte er in der Schlange einen Touristen, der Italienisch oder Spanisch sprach.
Erst als er wieder auf die Straße trat, kam ihm schlagartig ein Gedanke.
Er blieb völlig regungslos stehen, so als wäre er im Moment der Eingebung erstarrt.
Dann ging er wieder in die Bank zurück. Er wartete, bis die Touristen ihr Geld getauscht hatten.
Er zeigte der Kassiererin seinen Dienstausweis.
»Britta-Lena Bodén«, fragte er und lächelte. »Hat sie Urlaub?«
»Sie ist wohl bei ihren Eltern in Simrishamn«, antwortete die Kassiererin. »Sie hat noch zwei Wochen Urlaub.«
»Bodén«, sagte er. »Heißen ihre Eltern so?«
»Der Vater ist Besitzer einer Tankstelle in Simrishamn. Ich glaube, sie heißt heute Statoil.«
»Danke«, sagte Kurt Wallander. »Es geht nur um ein paar Routinefragen, die ich ihr stellen möchte.«
»Ich kann mich an Sie erinnern«, meinte die Kassiererin. »Daß es Ihnen noch immer nicht gelungen ist, diese entsetzliche Geschichte aufzuklären?«
»Ja«, erwiderte Kurt Wallander. »Das ist wirklich entsetzlich.«
Er lief fast zurück zum Polizeipräsidium, setzte sich ins Auto und fuhr nach Simrishamn. Von Britta-Lena Bodéns Vater erfuhr er, daß sie den Tag mit ein paar
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