Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
Ein betrunkener Junge hing mit dem halben Oberkörper aus dem Wagen heraus und grölte etwas.
Kurt Wallander erinnerte sich daran, wie es war, als er vor mehr als zwanzig Jahren diese Brücke überquert hatte. Gerade in diesen Stadtteilen hatte die Stadt damals genauso ausgesehen |165| wie heute. Hier war er als junger Polizist Streife gegangen, meistens zusammen mit einem älteren Kollegen, und sie waren in den Bahnhof gegangen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Manchmal hatten sie jemandem den Zutritt verweigert, der betrunken war und keine Fahrkarte hatte. Selten oder eigentlich nie war es zu Handgreiflichkeiten gekommen.
Diese Welt gibt es nicht mehr, dachte er.
Sie ist vergangen, für immer verloren.
Er betrat den Bahnhof. Viel hatte sich seit der Zeit verändert, als er Streife gegangen war. Aber der Steinboden war noch der gleiche. Genau wie die Geräuschkulisse mit den quietschenden Wagen und bremsenden Lokomotiven.
Plötzlich sah er seine Tochter.
Erst glaubte er, sich verguckt zu haben. Es hätte genausogut das Mädchen sein können, das auf Sten Widens Hof Heuballen herabgeworfen hatte. Aber dann war er seiner Sache sicher. Es war Linda.
Sie war zusammen mit einem kohlschwarzen Mann und versuchte, an einem Automaten eine Fahrkarte zu ziehen. Der Afrikaner war fast einen halben Meter größer als sie. Er hatte langes lockiges Haar und trug einen violetten Overall.
Als wäre er unterwegs, um jemanden zu beschatten, zog sich Wallander hastig zurück und verbarg sich im Schutz eines Pfeilers.
Der Afrikaner sagte etwas, und Linda lachte.
Ihm fuhr durch den Kopf, daß es mehrere Jahre her war, daß er seine Tochter hatte lachen sehen.
Was er sah, erfüllte ihn mit Verzweiflung. Er fühlte, daß er sie nicht erreichen konnte. Sie war für ihn verloren, obwohl er jetzt ganz in ihrer Nähe stand.
Meine Familie, dachte er. Ich stehe auf einem Bahnhof und spioniere meiner eigenen Tochter hinterher. Während ihre Mutter und meine Frau vielleicht schon im Restaurant angekommen ist, weil wir uns dort treffen wollen und es uns vielleicht |166| gelingen wird, miteinander zu reden, ohne uns zu beschimpfen und anzubrüllen.
Plötzlich bemerkte er, daß er nicht mehr richtig sehen konnte. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt.
Der Afrikaner und Linda gingen in Richtung Bahnsteig. Er wollte ihr hinterherrennen, sie an sich drücken.
Dann waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden, und er setzte seinen unerwarteten Beschattungsauftrag fort. Er schlich auf den Bahnsteig, auf dem vom Sund her ein eisiger Wind wehte. Er sah, wie sie Hand in Hand gingen und lachten. Das letzte, was er erkennen konnte, war, wie sich die Türen zischend schlossen und der Zug sich in Richtung Landskrona oder auch Lund in Bewegung setzte.
Er versuchte sich vor Augen zu halten, wie fröhlich sie ausgesehen hatte. Genauso unbeschwert wie ganz früher, als sie noch sehr jung war. Aber das einzige, was er empfinden konnte, war sein eigenes Elend.
Kurt Wallander. Der pathetische Polizist mit seinem bedauernswerten Familienleben.
Und jetzt kam er auch noch zu spät. Vielleicht war Mona auch schon wieder gegangen? Sie, die doch immer pünktlich war und es haßte, auf jemanden zu warten.
Besonders auf ihn.
Er begann, über den Bahnsteig zu laufen. Eine feuerrote Lokomotive fauchte neben ihm wie ein gereiztes Raubtier.
Er hatte es so eilig, daß er auf der Treppe, die zum Restaurant hinaufführte, stolperte. Der Türsteher, dessen Kopf fast kahl geschoren war, sah ihn abweisend an.
»Wo willst du denn hin?« fragte der Türsteher.
Kurt Wallander wurde von dieser Frage völlig überrumpelt. Ihre Bedeutung war ihm völlig klar.
Der Türsteher glaubte, daß er betrunken war. Er wollte ihm das Betreten des Lokals verbieten.
»Ich bin hier mit meiner Frau zum Abendessen verabredet«, sagte er.
|167| »Die Art von Verabredung kenne ich«, erwiderte der Türsteher. »Es ist wohl das beste, wenn du jetzt nach Hause gehst.«
Kurt Wallander spürte, daß er die Beherrschung verlor. »Ich bin Polizist!« brüllte er. Und ich bin nicht betrunken, falls du das glauben solltest. Laß mich jetzt durch, bevor ich wirklich wütend werde.«
»Leck mich am Arsch!« sagte der Türsteher. »Geh jetzt nach Hause, bevor ich die Bullen hole.«
Einen kurzen Moment lang dachte er daran, den Türsteher zu schlagen. Aber dann hatte er trotz allem genug Selbstbeherrschung, um die Ruhe zu bewahren. Er holte seinen Dienstausweis aus der
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