Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
hob das über dem Toten ausgebreitete Tuch vorsichtig ein Stück hoch.
|192| Rydberg hatte nicht übertrieben. Von dem Kopf war so gut wie nichts übriggeblieben.
»Schüsse aus unmittelbarer Nähe«, sagte Hansson, der daneben stand. »Der Täter muß aus einem Versteck gekrochen sein und die Schüsse aus ein paar Metern Entfernung abgegeben haben.«
»Schüsse?« sagte Kurt Wallander fragend.
»Die Leiterin des Lagers behauptet, daß sie kurz hintereinander zwei Schüsse gehört hat.«
Kurt Wallander sah sich um.
»Autospuren«, stellte er fest. »Wohin führt dieser Weg?«
»Zwei Kilometer weiter unten kommst du auf die E 14.«
»Und niemand hat etwas gesehen?«
»Es ist schwierig, Asylanten zu verhören, die fünfzehn unterschiedliche Sprachen sprechen. Aber wir sind dabei.«
»Wissen wir, wer der Tote ist?«
»Er hatte eine Frau und neun Kinder.«
Kurt Wallander sah Hansson ungläubig an.
»Neun Kinder?«
»Stell dir nur die morgigen Schlagzeilen vor«, antwortete Hansson. »Unschuldiger Asylbewerber während eines Spaziergangs ermordet. Neun Kinder ohne Vater.«
Svedberg kam von einem der Streifenwagen angelaufen.
»Der Polizeichef ist am Telefon«, sagte er.
Kurt Wallander sah ihn erstaunt an.
»Aber der kommt doch erst morgen aus Spanien zurück.«
»Nicht der. Der Reichspolizeichef.«
Kurt Wallander setzte sich ins Auto und nahm den Hörer. Der Reichspolizeichef sprach affektiert, und Kurt Wallander regte sich sofort auf über das, was er sagte.
»Das hier sieht schlimm aus. Mord aus rassistischen Motiven möchten wir in diesem Land am liebsten nicht haben.«
»Nein«, antwortete Kurt Wallander.
»Diese Ermittlung muß absolute Priorität haben.«
|193| »Ja. Aber wir haben schon den Doppelmord von Lenarp am Hals.«
»Machen Sie Fortschritte?«
»Ich glaube schon. Aber es dauert eben.«
»Ich möchte, daß Sie mir persönlich Bericht erstatten. Heute abend soll ich an einer Fernsehdiskussion teilnehmen und brauche daher alle zur Verfügung stehenden Informationen.«
»Ich werde es veranlassen.«
Das Gespräch war zu Ende.
Kurt Wallander blieb noch eine Weile im Auto sitzen.
Darum muß sich Näslund kümmern, dachte er. Er kann Stockholm mit Papieren füttern.
Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Sein Kater war verschwunden, und er dachte an das, was in der letzten Nacht passiert war. Daran wurde er auch durch Peters erinnert, den er von einem gerade eingetroffenen Einsatzwagen herkommen sah.
Dann dachte er an Mona und den Mann, der sie abgeholt hatte.
Und an die lachende Linda. Den farbigen Mann an ihrer Seite.
An seinen Vater, der sein ewiges Bild malte.
Er dachte auch an sich selbst.
Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit.
Dann zwang er sich, aus dem Auto zu steigen, um mit den Ermittlungen zu beginnen.
Es darf jetzt nicht noch mehr passieren, dachte er.
Dann schlagen die Wogen über uns zusammen.
Es war Viertel nach drei. Wieder einmal hatte es angefangen zu regnen.
|194| 10
Kurt Wallander stand im strömenden Regen und fror. Es war jetzt fast fünf Uhr, und die Polizei hatte rund um den Tatort Scheinwerfer angebracht. Er beobachtete zwei Sanitäter, die mit einer Bahre durch den Lehm stapften. Der tote Somalier sollte weggetragen werden. Während er den lehmigen Brei überall betrachtete, fragte er sich, ob es nicht selbst für einen so geschickten Polizisten wie Rydberg unmöglich sein würde, hier irgendwelche Spuren zu sichern.
Trotzdem fühlte er sich momentan ein wenig entlastet. Bis vor zehn Minuten war die Polizei von einer hysterischen Ehefrau und neun jämmerlich schreienden Kindern umgeben gewesen. Die Ehefrau des Toten hatte sich in den Lehm geworfen, und ihr Klagen war so herzzerreißend, daß mehrere Polizisten es nicht mehr ausgehalten hatten und weggegangen waren. Zu seiner Verwunderung mußte Kurt Wallander feststellen, daß der einzige, der mit der trauernden Frau und den verzweifelten Kindern umgehen konnte, Martinsson war. Der jüngste von allen Polizisten, der in seiner bisherigen Polizeilaufbahn noch nie zuvor gezwungen gewesen war, einem Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen. Er hatte die Frau gehalten, neben ihr im Lehm gekniet, und irgendwie hatten sie einander verstanden, über alle sprachlichen Grenzen hinweg. Ein Priester, der in aller Eile herbeigerufen worden war, hatte natürlich nichts ausrichten können. Martinsson dagegen war es allmählich geglückt, die Frau und die Kinder dazu zu bewegen, mit ihm zum
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