Wallander 02 - Hunde von Riga
von »Lippmans Reiseservice« vor.
Gegen Mitternacht ging er ins Bett.
Bevor er einschlief, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß das ganze Unternehmen wahnsinnig war.
Er war bereit, sich freiwillig auf etwas einzulassen, das zum Scheitern verurteilt war. Aber Baiba Liepas Notruf war echt, er war nicht nur ein böser Traum, und er mußte ihr eine Antwort geben.
Früh am nächsten Morgen rollte er in Trelleborg auf die Fähre. Einer der Zollbeamten, der gerade seine Schicht antrat, winkte ihm zu und fragte, wohin er unterwegs war.
»In die Alpen«, antwortete Wallander.
|259| »Das klingt gut.«
»Manchmal muß man einfach raus.«
»Ja, das müssen wir alle mal.«
»Ich hätte es keinen Tag länger ausgehalten.«
»Jetzt kannst du für ein paar Tage vergessen, daß du Polizist bist.«
»Genau.«
Aber Wallander wußte, daß dies nicht der Fall sein würde. Er war auf dem Weg zu seinem bisher schwierigsten Auftrag, einem Auftrag, der noch nicht einmal offiziell existierte.
Es war ein grauer Morgen. Er ging an Deck, als die Fähre vom Kai ablegte. Bibbernd sah er, wie das Meer sich mehr und mehr um ihn ausbreitete, je weiter das Schiff sich vom Land entfernte.
Langsam verschwand die schwedische Küste hinter dem Horizont.
Er saß in der Cafeteria und aß, als sich ein Mann, der sich als Preuss vorstellte, zu ihm gesellte. In seinen Taschen trug dieser Preuss sowohl schriftliche Instruktionen von Joseph Lippman als auch eine völlig neue Identität, die Wallander ab jetzt annehmen sollte. Preuss war ein Mann in den Fünfzigern. Er hatte ein hochrotes Gesicht und flackernde Augen.
»Lassen Sie uns einen Spaziergang an Deck machen«, schlug er vor.
An dem Tag, als Wallander nach Riga zurückfuhr, hing dichter Nebel über der Ostsee.
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Die Grenze war unsichtbar.
Und doch war sie da, in ihm, ein zusammengerolltes Knäuel aus Stacheldraht, genau unter dem Brustbein.
Kurt Wallander hatte Angst. Später würde er sich der letzten Schritte auf litauischem Boden in Richtung lettische Grenze als einer lähmenden Wanderung in ein Land erinnern, aus dem er mit Dantes Worten hätte rufen können: Laß alle Hoffnung fahren! Von hier kehrt niemand zurück, zumindest kein schwedischer Polizist.
Es war eine sternenklare Nacht. Preuss, der bei ihm war, seit er auf der Fähre von Trelleborg nach Saßnitz Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, schien auch nicht unberührt von dem, was ihnen bevorstand. Wallander konnte in der Dunkelheit hören, daß seine Atemzüge schnell und unregelmäßig gingen.
»Wir müssen warten«, flüsterte Preuss in seinem schwerverständlichen Deutsch.
»Warten, warten.«
In den ersten Tagen war Wallander wütend darüber gewesen, daß man ihm einen Begleiter zugeteilt hatte, der kein einziges Wort Englisch sprach. Er fragte sich, was Joseph Lippman sich eigentlich dabei gedacht hatte, als er voraussetzte, daß ein schwedischer Polizist, der kaum Englisch konnte, die deutsche Sprache perfekt beherrschen würde. Wallander war nahe daran gewesen, das ganze Vorhaben, das ihm ohnehin wie der Triumph verrückter Phantasten über die eigene Vernunft erschien, abzubrechen. Er dachte, daß die Letten, die allzu lange im Exil lebten, den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatten. Vergrämt, euphorisch oder einfach von allen guten Geistern verlassen versuchten sie ihren Landsleuten in der verlorenen |261| Heimat, die plötzlich die Möglichkeit einer ehrenvollen Wiedergeburt erblickten, beizustehen. Wie sollte ihm dieser Preuss, dieser kleine, magere Mann mit seinem narbigen Gesicht, genügend Mut machen, die Sicherheit vermitteln, die er brauchte, um seinen gewagten Auftrag, als Unsichtbarer nach Lettland zurückzukehren, auszuführen. Was wußte er eigentlich über Preuss, der in der Cafeteria der Fähre aufgetaucht war? Daß er ein Lette war, der im Exil lebte, daß er möglicherweise als Münzhändler im norddeutschen Kiel lebte? Aber was noch? Absolut nichts.
Irgend etwas hatte ihn trotzdem weitergetrieben, und Preuss hatte an seiner Seite schlafend auf dem Beifahrersitz gesessen, während Wallander den Anweisungen folgend, die Preuss in regelmäßigen Abständen durch Zeigen auf der Autokarte erteilte, Richtung Osten brauste. Sie waren in östlicher Richtung durch die ehemalige DDR gefahren und hatten am späten Nachmittag des ersten Tages die polnische Grenze erreicht. Neben einem heruntergekommenen Bauernhof, ungefähr fünf Kilometer vor der polnischen Grenze, hatte Wallander sein
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