Wallander 03 - Die weisse Löwin
Warten am Flußbett, wenn einen ein Löwe belauerte. Sie war weiß, ein Albino. Er dachte an all die Mythen, die sich um Menschen und Tiere rankten, die als Albinos geboren waren. Man sagte, daß sie über gewaltige Kräfte verfügten und niemals sterben würden.
Plötzlich regte sich die Löwin, kam genau auf sie zu. Ihre Konzentration war ungebrochen, ihr Gang geschmeidig. Der Fahrer startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer ein. Das Licht blendete sie. Sie blieb mitten in der Bewegung stehen, eine Tatze gehoben.
Georg Scheepers spürte, wie sich die Fingernägel seiner Frau durch sein Khakihemd bohrten.
Fahr los, dachte er. Fahr los, bevor sie angreift.
Der Fahrer legte den Gang ein. Der Motor hustete und verreckte fast. Georg Scheepers glaubte, das Herz müsse ihm stehenbleiben. Aber der Fahrer gab mehr Gas, und der Wagen setzte sich rückwärts in Bewegung. Die Löwin wandte sich ab, um nicht geblendet zu werden.
Dann war es vorüber. Judiths Nägel gruben sich nicht mehr in seinen Arm.
Sie hielten sich am Geländer fest, während der Jeep zurück zum Bungalow rumpelte, in dem sie wohnten. Der nächtliche Ausflug lag bald hinter ihnen. Aber die Erinnerung an die Löwin und die Gedanken, die sich an die Begegnung am Flußufer knüpften, würden bleiben.
Georg Scheepers hatte seiner Frau vorgeschlagen, für ein paar |353| Tage in den Krüger-Nationalpark zu reisen. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Bemühungen einer Woche hinter ihm, sich in die nachgelassenen Papiere des toten van Heerden hineinzufinden. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Sie würden über Freitag und Samstag wegbleiben können. Am Sonntag dann, am 17. Mai, würde er mit frischen Kräften versuchen, die Datenbanken van Heerdens zu knacken. Er wollte dazu den Tag nutzen, an dem er allein auf der Arbeit war und die Gänge der Staatsanwaltschaft leer waren. Die Kriminalisten der Polizei hatten ihm alle Materialien und Disketten in einem Karton in die Staatsanwaltschaft geschickt. Sein Chef Wervey hatte erreicht, daß dem Nachrichtendienst Anweisung gegeben wurde, die gesamten Unterlagen herauszurücken. Offiziell sollte auch Wervey persönlich, kraft seiner Position als Chefankläger Johannesburgs, das Material durchsehen, das der Nachrichtendienst sofort als streng geheim eingestuft hatte. Als van Heerdens Vorgesetzte sich geweigert hatten, die Unterlagen auszuhändigen, bevor sie von ihren eigenen Leuten geprüft waren, hatte Wervey einen seiner wiederkehrenden Wutausbrüche bekommen und unmittelbar Kontakt zum Justizminister aufgenommen. Einige Stunden später hatte der Geheimdienst nachgeben müssen. Das Material würde der Staatsanwaltschaft übergeben werden, die Verantwortung bei Wervey liegen. Georg Scheepers jedoch würde es in aller Heimlichkeit studieren. Deshalb also die Arbeit am Sonntag, wenn die Amtsräume leer und verlassen waren.
Sie hatten Johannesburg am frühen Morgen des 15. Mai, einem Freitag, verlassen. Auf der Autobahn N4 nach Nelspruit kamen sie schnell ans Ziel. Sie bogen auf eine Nebenstraße ab und erreichten den Krüger-Nationalpark am Nambitor. Judith hatte angerufen und einen Bungalow in Nwanetsi gebucht, einem der entferntesten Camps nahe der Grenze zu Moçambique. Sie waren schon oft dort gewesen und kamen immer wieder gern. Das Lager mit seinen Bungalows, dem Restaurant und den Safaribüros zog vor allem Gäste an, die Ruhe wünschten. Man ging zeitig schlafen und stand früh am Morgen auf, um die Tiere an der Tränke zu beobachten. Auf dem Weg nach Nelspruit hatte Judith sich nach dem Fall erkundigt, den |354| Georg für den Justizminister bearbeiten sollte. Er hatte ausweichend geantwortet, er wisse noch nicht allzuviel darüber. Aber er brauche Zeit, um für sich selbst die Prämissen seiner Arbeit zu formulieren. Sie fragte nicht weiter, denn sie wußte, daß sie mit einem sehr einsilbigen Mann verheiratet war.
Während der beiden Tage in Nwanetsi waren sie ständig unterwegs. Sie genossen den Anblick der Tiere und der Landschaft und ließen Johannesburg und die Unruhe weit hinter sich. Nach den Mahlzeiten vertiefte sich Judith in eines ihrer Bücher, während Georg Scheepers rekapitulierte, was er bisher über van Heerden und dessen geheime Arbeit wußte.
Er hatte begonnen, van Heerdens Akten durchzugehen, und war sehr bald zu der Erkenntnis gelangt, daß er sich darin üben mußte, zwischen den Zeilen zu lesen. Unter formell korrekten Denkschriften und Ermittlungsberichten fand er Zettel
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