Wallander 03 - Die weisse Löwin
Weile nach. Dann gab er »Kudu« ein. Wieder eine negative Antwort. Er griff zum Telefonhörer und rief daheim bei Judith an.
»Ich brauche deine Hilfe. Hol unser Tierlexikon und schlag unter Antilopen nach.«
»Womit beschäftigst du dich eigentlich?« fragte sie verwundert.
»Meine Aufgabe besteht unter anderem darin, eine Denkschrift über die Entwicklung unserer Antilopenstämme zu verfassen«, log er. »Ich will nur sichergehen, daß ich keine Art vergesse.«
Sie holte das Buch und nannte ihm die verschiedenen Bezeichnungen.
»Wann kommst du heim?« fragte sie dann.
»Entweder bald oder sehr spät. Ich rufe an.«
Als er das Gespräch beendet hatte, war ihm sofort klar, wie das Wort lauten mußte. Unter der Voraussetzung, daß die kleine Skulptur im Inventarverzeichnis der richtige Hinweis war.
Springbock, dachte er. Unser Nationalsymbol. Sollte es so einfach sein?
|359| Er tippte das Wort langsam ein und zögerte ein wenig vor dem letzten Buchstaben. Der Computer antwortete unmittelbar. Negativ.
Es gibt noch eine Möglichkeit, dachte er. Dasselbe Wort. Aber auf
afrikaans
. Er schrieb
springboek
. Sofort leuchtete der Bildschirm auf. Dann erschien eine Inhaltsangabe der Diskette.
Er hatte es geschafft, hatte sich in van Heerdens Welt zurechtgefunden.
Er merkte, daß er vor Aufregung schwitzte. Die Freude des Einbrechers, bevor er den Banktresor öffnet, dachte er.
Dann studierte er, was auf dem Monitor erschien. Anschließend, als es fast acht Uhr abends war und er die umfangreichen Texte gelesen hatte, wußte er zweierlei. Zum einen war er nun sicher, daß man van Heerden seiner Arbeit wegen ermordet hatte. Zum anderen konnte er seiner Vorahnung einer nahenden Gefahr die Berechtigung nicht mehr absprechen.
Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte den Rücken.
Dann bekam er eine Gänsehaut.
Van Heerden hatte seine auf der Diskette gespeicherten Aufzeichnungen mit kühler Exaktheit geführt. Er begriff nun, daß van Heerden ein tief gespaltener Mensch gewesen war. Seine Beobachtungen im Zusammenhang mit der vermuteten Konspiration hatten ein bereits früher vorhandenes Gefühl verstärkt, daß sein Leben als Bure auf einer Lüge basierte. So tief, wie er in die Realität der Verschwörer eingetaucht war, war er auch in seine eigene eingedrungen. Die Welten der losen Zettel und der kühlen Exaktheit sollten in ein und demselben Menschen Platz finden.
Er dachte, daß van Heerden in gewisser Weise seinem eigenen Untergang nahe gewesen war.
Er erhob sich und ging zum Fenster. Von irgendwo weit her klangen Polizeisirenen.
Was haben wir geglaubt? fragte er sich. Daß unsere Träume von einer unveränderlichen Welt wahr sein würden? Daß die kleinen Zugeständnisse an die Schwarzen ausreichen würden? Die im Grunde nichts änderten?
Ein Gefühl der Scham stieg in ihm auf. Denn obwohl er einer |360| der neuen Buren war, einer, der de Klerk nicht für einen Verräter hielt, hatte er, wie seine Frau Judith, letztendlich dazu beigetragen, daß die rassistische Politik weiterleben konnte. Auch er trug in sich das Totenreich, von dem van Heerden geschrieben hatte. Auch er war schuldig.
Diese schweigende Billigung war schließlich die Basis für die Absichten der Verschwörer. Sie rechneten mit seiner Passivität, seiner stillen Dankbarkeit.
Wieder setzte er sich vor den Bildschirm.
Van Heerden war auf der richtigen Spur gewesen. Die Schlußfolgerungen, die Scheepers nun ziehen konnte und die er am nächsten Tag an Präsident de Klerk weitergeben würde, konnten unmöglich ignoriert werden.
Nelson Mandela, der unumstrittene Führer der Schwarzen, sollte ermordet werden. Van Heerden hatte in der letzten Zeit fieberhaft versucht, die entscheidenden Fragen nach dem Wo und Wann zu beantworten. Als er den Computer zum letztenmal ausschaltete, hatte er die Antwort noch nicht gefunden. Aber Anzeichen deuteten darauf hin, daß der Mord in naher Zukunft geschehen würde, im Zusammenhang mit einer Rede Mandelas vor einem großen Publikum. Van Heerden hatte für die kommenden drei Monate eine Liste denkbarer Orte und Tage aufgestellt. Darunter waren Durban, Johannesburg, Soweto, Bloemfontein, Kapstadt und East London mit dem entsprechenden Datum. Irgendwo außerhalb der Grenzen Südafrikas bereitete sich ein Berufskiller vor. Van Heerden hatte herausgefunden, daß ein abgedankter KG B-Offizier als undeutlicher Schatten im Hintergrund des Mörders stand. Aber auch hier gab es noch viele
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