Wallander 03 - Die weisse Löwin
Nebel auftauchen. Wallander versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man in den Kopf geschossen wurde. Aber er fühlte nichts. Der Sinn seines Lebens bestand ausschließlich darin, dem Zaun zu folgen. Irgendwo war Konovalenko mit seiner Waffe, und er würde ihn finden.
Als Wallander die Straße nach Sandhammaren erreichte, gab es nichts als Nebel. Auf der gegenüberliegenden Seite glaubte er die Silhouette eines Pferdes zu erkennen, das reglos und mit gespitzten Ohren dastand.
Dann stellte er sich mitten auf die Straße und pißte. Entfernt hörte er ein Auto auf der Straße nach Kristianstad.
Er lief weiter, in Richtung Kåseberga. Konovalenko war verschwunden. Wieder einmal war er entkommen. Wallander wanderte ohne Ziel. Es war leichter, zu gehen, als zu stehen. Er wünschte, Baiba Liepa würde sich aus all dem Weißen lösen und ihm entgegenkommen. Aber niemand war in seiner Nähe. Es gab nur ihn und den feuchten Asphalt.
Ein Fahrrad lehnte an einem Melkschemel. Da es nicht angeschlossen war, ging Wallander davon aus, daß jemand es für ihn hingestellt hatte. Er klemmte das Schrotgewehr auf den Gepäckträger und radelte davon. Sobald wie möglich bog er von der Asphaltstraße ab und fuhr verschiedene Sandwege entlang, die sich kreuzten. Schließlich kam er an das Haus seines Vaters. Alles war |368| dunkel, bis auf eine einsame Lampe über der Tür. Er stand still und lauschte. Dann versteckte er das Fahrrad hinter dem Nebengebäude. Vorsichtig lief er über den Kies. Er wußte, wo sein Vater einen Ersatzschlüssel liegen hatte, in einem kaputten Blumentopf an der Außentreppe, die in den Keller hinunterführte. Er schloß das Atelier des Vaters auf. Es gab da einen Innenraum ohne Fenster, wo Farben und alte Leinwände verwahrt wurden. Er zog die Tür hinter sich zu und schaltete die Lampe ein. Das Licht der Glühbirne verwirrte ihn, als hätte er den Nebel auch hier erwartet. Unter dem kalten Strahl des Wasserhahns versuchte er, sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen. In einer gesprungenen Spiegelfliese an der Wand konnte er sich betrachten. Er erkannte seine eigenen Augen nicht wieder. Sie waren aufgerissen, blutunterlaufen, flackerten ängstlich. Er kochte Kaffee auf der schmutzigen elektrischen Kochplatte. Es war vier Uhr morgens. Er wußte, daß sein Vater für gewöhnlich um halb sechs aufstand. Bis dahin mußte er weg sein. Was er jetzt brauchte, war ein Versteck. Verschiedene Alternativen, alle gleichermaßen unmöglich, gingen ihm durch den Kopf. Aber schließlich fiel ihm ein, was er tun würde. Er trank seinen Kaffee aus und verließ das Atelier, überquerte den Hof und schloß vorsichtig die Haustür auf. Er stand im Flur und nahm den muffigen Altmännergeruch wahr. Dann lauschte er. Alles war ruhig. Er ging vorsichtig in die Küche, wo das Telefon stand, und zog die Tür hinter sich zu. Zu seinem Erstaunen erinnerte er sich an die Telefonnummer. Die Hand auf dem Hörer, überlegte er, was er sagen sollte. Dann wählte er die Nummer.
Sten Widén meldete sich fast unmittelbar. Wallander hörte, daß er bereits wach gewesen war. Pferdenarren stehen zeitig auf, dachte er.
»Sten? Hier ist Kurt Wallander.«
Sie waren einmal sehr enge Freunde gewesen. Wallander wußte, daß Widén es sich niemals anmerken ließ, wenn er überrascht war.
»Ich höre es. Du rufst um vier Uhr morgens an?«
»Ich brauche deine Hilfe.«
Sten Widén sagte nichts. Er wartete auf eine Fortsetzung.
|369| »An der Straße nach Sandhammaren«, fuhr Wallander fort. »Du mußt mich abholen. Ich muß mich eine Weile bei dir verstecken. Mindestens ein paar Stunden.«
»Wo?«
Dann begann er zu husten. Er raucht immer noch seine starken Zigarillos, dachte Wallander.
»Ich erwarte dich an der Abzweigung nach Kåseberga. Was für ein Auto hast du?«
»Einen alten Duett.«
»Wie lange brauchst du?«
»Es herrscht dichter Nebel. Fünfundvierzig Minuten. Vielleicht ein bißchen weniger.«
»Ich werde dort sein. Danke für deine Hilfe.«
Er legte auf und verließ die Küche. Dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er ging ins Wohnzimmer hinüber, wo der alte Fernseher stand, und zog vorsichtig den Vorhang zum Gästezimmer zur Seite, wo seine Tochter schlief. In dem schwachen Schein, den die Küchenlampe bis hierhin warf, sah er ihr Haar, die Stirn und ein Stück von der Nase. Sie schlief tief und fest.
Dann verließ er das Haus und beseitigte im Innenraum des Ateliers die Spuren seiner Anwesenheit. Er radelte
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