Wallander 03 - Die weisse Löwin
geschossen worden. Sie ließen sie liegen und setzten schweigend ihren Rundgang durchs Haus fort. Sie öffneten die Kellerluke und stiegen hinunter. Svedberg gelang es, die Kette beiseite zu bringen, mit der, |454| wie er vermutete, die Tochter gefesselt worden war. Aber Wallander begriff auch so, daß man sie hier unten im Dunkeln versteckt hatte. Svedberg sah, wie er die Zähne zusammenbiß. Er fragte sich, wie lange Wallander noch durchhalten würde. Sie kehrten in die Küche zurück. Svedberg entdeckte einen großen Kessel mit blutigem Wasser. Als er den Finger hineintauchte, spürte er noch einen Rest Wärme. Er begann zu begreifen, was geschehen war. In Gedanken ging er das Haus langsam noch einmal durch und versuchte, die verschiedenen Spuren zu deuten und das Geschehene zu rekonstruieren. Endlich schlug er vor, sich zu setzen. Wallander wirkte fast apathisch. Svedberg konzentrierte sich. Sollte er es wagen? Die Verantwortung war groß.
Aber schließlich entschied er sich.
»Ich weiß nicht, wo deine Tochter ist«, sagte er. »Aber sie lebt, da bin ich sicher.«
Wallander sah ihn schweigend an.
»Ich glaube, es ist folgendermaßen abgelaufen«, fuhr Svedberg fort. »Natürlich kann ich nicht sicher sein. Aber ich versuche, die Spuren zu interpretieren, sie zu kombinieren und eine Handlung daraus zu machen. Ich glaube, die tote Frau hat versucht, deiner Tochter bei der Flucht zu helfen. Ob es ihr gelungen ist oder nicht, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie weggekommen, vielleicht hat Konovalenko sie auch aufhalten können. Beides ist möglich. Er hat Tania auf eine so sadistische Weise umgebracht, daß die Vermutung naheliegt, deiner Tochter könnte die Flucht gelungen sein. Aber es kann auch eine Reaktion darauf gewesen sein, daß sie überhaupt versucht hat, Linda zu helfen. Tania hat ihn verraten, und das reichte aus, um seinen grenzenlosen Zorn herauszufordern. Er hat ihr Gesicht in kochendes Wasser getaucht. Dann hat er ihr in die Füße geschossen, für die Flucht, und in die Hände und schließlich durchs Herz. Ich will lieber nicht daran denken, wie die letzte Stunde ihres Lebens war. Anschließend hat er sich davongemacht. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, daß deiner Tochter die Flucht gelungen ist. Denn nun konnte Konovalenko das Haus nicht mehr als sicher ansehen. Es ist aber ebenso möglich, daß Konovalenko befürchtete, |455| jemand könnte die Schüsse gehört haben. Das ist also meine Version. Es kann jedoch auch ganz anders gewesen sein.«
Es war inzwischen sieben Uhr. Keiner sagte ein Wort.
Dann stand Svedberg auf und ging hinaus zum Telefon. Er rief Martinsson an und mußte warten, weil er gerade im Bad war.
»Tu mir einen Gefallen«, bat Svedberg. »Fahr raus zum Bahnhof von Tomelilla und hol mich dort in einer Stunde ab. Aber verrate keinem, wohin du fährst.«
»Wirst du jetzt auch noch verrückt?« fragte Martinsson.
»Im Gegenteil. Es ist wichtig«, antwortete Svedberg.
Er legte auf und sah Wallander an.
»Du kannst jetzt nichts Besseres tun als schlafen. Fahr mit Sten nach Hause. Wir können dich auch zu deinem Vater bringen.«
»Wie sollte ich schlafen können?« sagte Wallander abwesend.
»Indem du dich hinlegst. Du machst jetzt, was ich sage. Wenn du deiner Tochter von Nutzen sein willst, dann mußt du schlafen. In deinem jetzigen Zustand wirst du uns bald nur noch zur Last fallen.«
Wallander nickte. »Ich glaube, ich fahre am besten zu meinem Vater.«
»Wo hast du den Wagen?« fragte Sten Widén.
»Ich werde ihn holen. Ich brauche ein wenig frische Luft.«
Er ging. Svedberg und Sten Widén sahen sich an, zu müde und gleichzeitig zu aufgeregt, um zu reden.
»Ich bin froh, daß ich kein Polizist bin«, sagte Sten Widén, als der Duett auf den Hof rollte. Er nickte in Richtung des Raumes, in dem Tania lag.
»Danke für die Hilfe«, sagte Svedberg.
Er sah sie wegfahren.
Er fragte sich, wann der Alptraum wohl endlich vorüber wäre.
Sten Widén hielt an und ließ Wallander aussteigen. Während der Fahrt hatten sie kein einziges Wort gewechselt.
»Ich lasse im Laufe des Tages von mir hören«, sagte Sten Widén.
|456| Er sah Wallander nach, der langsam zum Haus hinüberging.
Armer Kerl, dachte er. Wie lange wird er noch durchhalten?
Der Vater saß am Küchentisch. Er war unrasiert, und Wallander merkte am Geruch, daß er sich waschen mußte. Er setzte sich ihm gegenüber.
Lange Zeit sprach keiner ein Wort.
»Sie schläft«, sagte der Vater
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