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Wallander 05 - Die falsche Fährte

Wallander 05 - Die falsche Fährte

Titel: Wallander 05 - Die falsche Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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war der jüngste Bruder, der auf ihren Schoß gekrochen war und sich |421| an sie klammerte. Irgend etwas an ihm wirkte nicht richtig normal. Er nahm den Blick nicht von Wallander, der sich an Elisabeth Carlén erinnert fühlte. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen sich mit Wachsamkeit beobachten, dachte er. Ob es eine Hure ist, ein vierjähriger Junge oder ein älterer Bruder. Ständig diese Furcht, dieser Mangel an Vertrauen, diese ruhelose Wachsamkeit.
    »Ich komme wegen Louise«, sagte Wallander. »Es ist natürlich schwer, über ein Familienmitglied zu sprechen, das sich in einer psychiatrischen Anstalt befindet. Trotzdem ist es notwendig.«
    »Warum läßt man sie nicht in Frieden?« fragte die Frau.
    Ihre Stimme klang gequält und unsicher, als bezweifle sie schon im voraus, ihre Tochter verteidigen zu können.
    Wallander war beklommen zumute. Am liebsten wäre er um dieses Gespräch herumgekommen. Er war auch unsicher, wie er vorgehen sollte.
    »Natürlich soll sie ihren Frieden haben«, sagte er. »Aber es gehört zu den betrüblichen Aufgaben der Polizei, jede denkbare Information einzuholen, um ein schweres Verbrechen aufklären zu können.«
    »Sie ist ihrem Vater viele Jahre nicht begegnet«, erwiderte sie. »Sie kann Ihnen nichts Wichtiges erzählen.«
    Plötzlich hatte er eine Idee.
    »Weiß Louise davon, daß ihr Vater tot ist?«
    »Warum sollte sie das?«
    »Es ist doch nicht völlig undenkbar?«
    Wallander sah, daß die Frau auf dem Sofa kurz davor war zusammenzubrechen. Mit jeder Frage und Antwort wuchs seine Beklemmung. Ohne dies zu beabsichtigen, hatte er sie einem Druck ausgesetzt, dem sie kaum gewachsen war. Der Junge neben ihr sagte nichts.
    »Sie müssen wissen, daß Louise kein Verhältnis zur Wirklichkeit mehr hat«, sagte sie mit so leiser Stimme, daß Wallander sich vorbeugen mußte, um sie zu verstehen. »Louise hat alles hinter sich gelassen. Sie lebt in ihrer eigenen Welt. Sie spricht nicht, sie hört nicht zu, sie spielt ein Spiel, daß es sie nicht gibt.«
    Wallander dachte genau nach, bevor er fortfuhr.
    |422| »Trotzdem kann es für uns wichtig sein zu wissen, warum sie krank geworden ist. Ich wollte Sie eigentlich um Ihre Einwilligung bitten, Ihre Tochter zu besuchen und mit ihr zu sprechen. Jetzt sehe ich, daß das wohl nicht geht. Aber dann müssen Sie auf meine Fragen antworten.«
    »Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Sie wurde krank. Es kam aus heiterem Himmel.«
    »Sie ist im Pildammspark gefunden worden«, sagte Wallander.
    Mutter und Sohn erstarrten. Auch der kleine Junge auf ihrem Schoß schien zu reagieren, wie von ihnen angesteckt.
    »Woher wissen Sie das?« fragte sie.
    »Es gibt einen Bericht darüber, wie und wann sie ins Krankenhaus gebracht wurde«, sagte Wallander. »Doch das ist auch alles, was ich weiß. Alles, was ihre Krankheit betrifft, ist ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Arzt. Und Ihnen. Und dann habe ich gehört, daß sie Schwierigkeiten in der Schule hatte, bevor sie krank wurde.«
    »Sie hatte nie Schwierigkeiten. Aber sie war immer sehr sensibel.«
    »Das war sie bestimmt. Dennoch pflegen psychische Krankheiten durch bestimmte Ereignisse ausgelöst zu werden.«
    »Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie Arzt?«
    »Ich bin Polizeibeamter. Aber ich weiß, was ich sage.«
    »Es war nichts passiert.«
    »Aber Sie müssen sich doch Tag und Nacht Gedanken darüber gemacht haben?«
    »Ich habe seit dem Tag nichts anderes getan.«
    Wallander empfand die Stimmung als dermaßen unerträglich, daß er wünschte, er könnte aufstehen und gehen. Die Antworten, die er bekam, brachten ihn nicht weiter, auch wenn er glaubte, daß sie der Wahrheit entsprachen oder zumindest einem Teil der Wahrheit.
    »Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr, das ich mir ansehen kann?«
    »Möchten Sie das?«
    »Gerne.«
    Wallander bemerkte, daß der Junge neben ihr ansetzte, etwas |423| zu sagen, aber schwieg. Es ging sehr plötzlich, doch Wallander nahm es wahr. Er fragte sich, warum. Wollte der Junge nicht, daß er seine Schwester sah? Und wenn, warum nicht?
    Die Mutter stand auf und nahm den Kleinen, der sich an sie klammerte, auf den Arm. Sie öffnete eine Schublade und kam mit zwei Bildern zurück. Wallander legte sie vor sich auf den Tisch. Das Mädchen namens Louise lächelte. Sie war blond und glich ihrem Bruder Stefan. In ihren Augen konnte er nichts von der Wachsamkeit erkennen, von der er sich umgeben fühlte. Sie lächelte dem Fotografen offen und

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