Wallander 05 - Die falsche Fährte
Er erinnerte sich daran, daß er es als junger und unerfahrener Kriminalbeamter bei Rydberg ebenso gemacht hatte. Statt dies als Aufmunterung und als Bekräftigung ihres Respekts vor seinem Wissen und seiner Erfahrung |80| zu empfinden, bedrückte es ihn. Die Wachablösung ist schon auf dem Weg, dachte er und ahnte bereits die abschüssige Bahn, die ihn erwartete. Er erinnerte sich an den Tag vor bald zwei Jahren, an dem sie sich zum erstenmal begegnet waren. Er hatte gedacht, daß sie eine blasse und alles andere als attraktive junge Frau war, die die Polizeihochschule mit den besten Zeugnissen absolviert hatte. Doch ihre ersten Worte an ihn waren gewesen, daß sie glaube, er werde ihr all das beibringen, was das isolierte Schulmilieu über die unberechenbare Wirklichkeit nie erzählen konnte. Es sollte umgekehrt sein, dachte er hastig, während er eine undeutliche Lithographie betrachtete, deren Motiv er nicht erkennen konnte. Unmerklich war der Übergang bereits geschehen. Ich lerne mehr von ihrer Art, mich anzusehen, als sie von meinem immer mehr versiegenden Polizeigespür.
Sie blieben an einem Fenster im Obergeschoß stehen, von wo sie auf den Strand hinausblicken konnten. Scheinwerfer waren schon an Ort und Stelle, Nyberg, der endlich gekommen war, gestikulierte wütend und dirigierte eine Kunststoffplane, die schräg über dem Ruderboot hing. Die äußere Absperrung wurde von Polizisten in langen Mänteln bewacht. Es regnete jetzt sehr heftig, und außerhalb der Absperrung befanden sich nur wenige Personen.
»Ich fange an zu glauben, daß ich mich geirrt habe«, sagte Wallander, während er beobachtete, wie die Kunststoffabdeckung endlich so stand, wie sie sollte. »Es gibt hier keine Spuren, die darauf hinweisen, daß Wetterstedt im Haus getötet worden ist.«
»Der Mörder kann Ordnung gemacht haben«, wandte Ann-Britt Höglund ein.
»Das erfahren wir, wenn Nyberg das Haus gründlich untersucht hat«, sagte Wallander. »Sagen wir lieber, daß ich meinem Gefühl ein Gegengefühl entgegenstelle. Ich glaube jetzt doch, daß es draußen geschehen ist.«
Schweigend kehrten sie ins Erdgeschoß zurück.
»Es lag keine Post hinter der Tür«, sagte sie. »Das Haus ist umzäunt. Es muß einen Briefkasten geben.«
»Das machen wir später«, sagte er.
Er betrat das große Wohnzimmer und stellte sich in die Mitte. |81| Sie blieb an der Tür stehen und betrachtete ihn, als erwarte sie eine improvisierte Vorlesung.
»Ich frage mich immer, was ich nicht sehe«, sagte Wallander. »Aber hier wirkt alles so offensichtlich. Ein alleinstehender Mann wohnt in einem Haus, in dem alles seinen bestimmten Platz hat, keine unbezahlten Rechnungen, und wo die Einsamkeit wie alter Zigarrenrauch an den Wänden klebt. Das einzige, was aus dem Rahmen fällt, ist die Tatsache, daß der fragliche Mann jetzt tot unter Göran Lindgrens Ruderboot am Strand liegt.«
Er korrigierte sich. »Doch, eine Sache fällt aus dem Rahmen. Daß die Lampe an der Gartenpforte kaputt ist.«
»Die kann doch kaputtgegangen sein«, sagte sie erstaunt.
»Ja, aber es fällt trotz allem aus dem Rahmen.«
Es klopfte an der Tür. Als Wallander öffnete, stand Hansson draußen im Regen, und das Wasser rann ihm übers Gesicht.
»Weder Nyberg noch der Arzt kommen weiter, wenn wir das Boot nicht umdrehen«, sagte er.
»Dreht es um. Ich komme bald.«
Hansson verschwand wieder im Regen.
»Wir müssen anfangen, nach seiner Familie zu suchen«, sagte er. »Er muß ein Telefonbuch haben.«
»Eins ist merkwürdig«, sagte sie. »Überall finden sich Erinnerungen an ein langes Leben mit vielen Reisen und unzähligen Begegnungen mit Menschen. Aber es gibt keine Familienfotos.«
Wallander blickte sich im Wohnzimmer um, in das sie zurückgekehrt waren: Sie hatte recht. Es wurmte ihn, daß er nicht selbst darauf gekommen war.
»Vielleicht wollte er nicht an sein Alter erinnert werden«, sagte er, ohne selbst ganz überzeugt zu sein.
»Eine Frau könnte nie in einem Haus ohne Fotos ihrer Familie leben«, sagte sie. »Vielleicht bin ich deshalb darauf gekommen.«
Auf einem Tisch neben dem Sofa stand ein Telefon.
»In seinem Arbeitszimmer war auch ein Telefon«, sagte er. »Such du dort, dann fange ich hier an.«
Wallander ging neben dem niedrigen Telefontisch in die Hocke. Beim Telefon lag die Fernbedienung des Fernsehers. Er konnte telefonieren und gleichzeitig fernsehen, dachte er. Genau wie er |82| selbst. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen es
Weitere Kostenlose Bücher