Wallander 05 - Die falsche Fährte
Ungefähr so wie ein Schiff, das langsam am Horizont verschwindet. Wir werden ihn weiter deutlich sehen. Aber für ihn werden wir immer mehr zu Gestalten im Nebel. Unser Aussehen, unsere Worte, unsere gemeinsamen Erinnerungen, alles wird undeutlich, um am Ende ganz zu verschwinden. Er kann bösartig werden, ohne selbst etwas davon zu merken. Er kann ein ganz anderer Mensch werden.«
Wallander sah, daß sie traurig wurde.
»Kann man denn nichts machen?« fragte sie nach langem Schweigen.
»Darauf kann nur Gertrud antworten«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, daß es ein Mittel gibt.«
Er erzählte auch von der Italienreise, die der Vater machen wollte. »Nur er und ich, vielleicht können wir endlich all das ausräumen, was die ganzen Jahre zwischen uns gestanden hat.«
Gertrud trat auf die Haustreppe, als sie auf den Hof fuhren. Linda verschwand sofort bei ihrem Großvater, der in seinem Atelier im ehemaligen Stalltrakt saß und malte. Wallander setzte sich zu Gertrud in die Küche. Es war, wie er vermutete. Man konnte nichts machen, außer zu versuchen weiterzuleben wie gewöhnlich und abzuwarten.
»Schafft er die Reise nach Italien?« fragte Wallander.
»Er redet von nichts anderem«, erwiderte sie. »Und wenn er dort unten stürbe, wäre das wahrlich nicht das Schlechteste.«
Sie erzählte ihm, wie ruhig sein Vater die Nachricht von seiner Krankheit aufgenommen hatte. Das erstaunte Wallander, der immer erlebt hatte, daß sein Vater bei der geringsten Unpäßlichkeit überaus grantig geworden war.
|185| »Ich glaube, er hat sich mit seinem Alter ausgesöhnt«, sagte Gertrud. »Und er denkt, daß er im großen und ganzen das gleiche Leben wieder leben würde, wenn er eine zweite Möglichkeit bekäme.«
»In dem Leben würde er mich sicher daran hindern, Polizist zu werden«, antwortete Wallander.
»Das ist ja schrecklich, was ich in der Zeitung lese«, sagte sie. »All diese grausigen Dinge, mit denen du dich beschäftigen mußt.«
»Jemand muß es ja tun«, sagte Wallander. »So ist das eben.«
Sie aßen im Garten zu Abend. Wallander fand, daß sein Vater während des ganzen Abends in bester Stimmung war. Er nahm an, daß Linda die Hauptursache war. Es war schon elf, als sie nach Hause fuhren.
»Erwachsene können so kindisch sein«, sagte sie plötzlich. »Manchmal, um sich aufzuspielen. Oder um jugendlich zu wirken. Aber Großvater kann auf eine Weise kindisch sein, die vollkommen echt erscheint.«
»Dein Großvater ist ein sehr ungewöhnlicher Mensch«, sagte Wallander. »Das ist er immer gewesen.«
»Weißt du, daß du anfängst, ihm ähnlich zu werden?« fragte sie plötzlich. »Du wirst ihm mit jedem Jahr ähnlicher.«
»Ich weiß. Aber ich weiß nicht, ob es mir gefällt.«
Er setzte sie da ab, wo sie zugestiegen war. Sie verabredeten, daß sie ihn in den nächsten Tagen anriefe. Er sah sie hinter der Österportschule verschwinden und stellte zu seiner Verwunderung fest, daß er der laufenden Ermittlung während des ganzen Abends nicht einen einzigen Gedanken gewidmet hatte. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Aber er schob es beiseite. Er konnte nicht mehr tun, als er tat.
Er fuhr zum Präsidium, blieb jedoch nur sehr kurz. Keiner der Kollegen war da. Keine der auf seinem Tisch liegenden Mitteilungen war so wichtig, daß noch am gleichen Abend etwas unternommen werden mußte. Er fuhr nach Hause, stellte den Wagen ab und ging in seine Wohnung.
|186| In dieser Nacht blieb er lange auf. Er öffnete das Fenster und ließ die laue Sommernacht herein. Dann legte er Puccini auf und schenkte sich den letzten Rest aus einer Whiskyflasche ein. Zum erstenmal meinte er, etwas von der Freude wiedergefunden zu haben, die er an jenem Nachmittag gefühlt hatte, als er zu Salomonssons Hof hinausfuhr. Bevor die Katastrophe hereingebrochen war. Jetzt steckte er tief in einer Ermittlung, die von zwei grundlegenden Voraussetzungen geprägt wurde. Teils hatten sie sehr wenig in der Hand, woran sie sich halten konnten, um den Täter zu identifizieren; teils konnte es durchaus sein, daß der Täter gerade in diesem Augenblick seinen dritten Mord beging. Dennoch fand Wallander, er könne in dieser späten Nachtstunde die Gedanken an die Ermittlung von sich schieben. Für eine kurze Weile lief auch das brennende Mädchen nicht mehr durch seinen Kopf. Er legte sich aufs Sofa und döste zur Musik in der Sommernacht, das Whiskyglas in Reichweite.
Plötzlich zog ihn etwas wieder an die Oberfläche. Etwas,
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