Wallander 06 - Die fünfte Frau
verstehen.«
»Vielleicht ist er ja einmal hier durchgekommen? Ohne daß jemand davon wußte.«
»Oder nur eine einzelne Person«, antwortete Wallander.
Melander betrachtete ihn. »Sie denken sich etwas?«
»Ja. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet.«
Sie schüttelten sich die Hand. Wallander setzte sich in den Wagen und fuhr davon. Im Rückspiegel sah er Melander stehen und ihm nachblicken.
Er fuhr durch endlose Wälder.
Als er Gävle erreichte, war es bereits dunkel. Er suchte das Hotel, das Svedberg ihm genannt hatte. An der Rezeption erfuhr er, daß Linda schon gekommen war.
Sie fanden ein kleines Restaurant, wo es ruhig war, nur wenige Gäste, trotz des Samstagabends. Da Linda wirklich gekommen war und sie sich an diesem für sie beide unbekannten Ort befanden, entschloß sich Wallander spontan, ihr von den Gedanken zu erzählen, die er für die Zukunft hegte.
Doch zuerst unterhielten sie sich natürlich über seinen Vater und ihren Großvater, der nicht mehr da war.
»Ich habe mich oft über euer gutes Verhältnis gewundert«, sagte Wallander. »Vielleicht war ich einfach eifersüchtig? Ich habe euch zusammen gesehen, und dann konnte ich etwas erkennen, was mich an meine eigene Jugend erinnerte, was aber dann vollständig verschwunden war.«
»Es ist vielleicht gut, wenn eine Generation dazwischenliegt«, sagte Linda. »Es ist nichts Ungewöhnliches, daß Großeltern und Enkel besser miteinander zurechtkommen als Eltern und Kinder.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kann es an mir selbst sehen. Und ich habe Freunde, die das gleiche sagen.«
|297| »Trotzdem habe ich immer das Gefühl gehabt, daß es unnötig war«, sagte Wallander. »Ich habe nie verstanden, warum er nicht akzeptieren konnte, daß ich zur Polizei gegangen bin. Wenn er es mir wenigstens erklärt hätte. Oder eine Alternative vorgeschlagen hätte. Aber das hat er nicht getan.«
»Großvater war sehr eigen«, sagte sie. »Und launisch. Aber was würdest du denn sagen, wenn ich plötzlich käme und allen Ernstes erklärte, Polizistin werden zu wollen?«
Wallander fing an zu lachen. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das fände. Wir haben das Thema ja schon einmal gestreift.«
Nach dem Abendessen kehrten sie ins Hotel zurück. Auf einem Thermometer vor einem Eisenwarenladen sah Wallander, daß es zwei Grad minus war. Sie setzten sich in den Aufenthaltsraum. Das Hotel hatte wenig Gäste, und sie blieben allein. Wallander begann, sich vorsichtig nach ihren Ambitionen als Schauspielerin zu erkundigen, spürte aber sogleich, daß sie lieber nicht darüber sprechen wollte. Jedenfalls nicht jetzt. Er ließ die Frage fallen, war aber besorgt. Im Laufe von nur wenigen Jahren hatte Linda mehrfach ihre Richtung und ihre Interessen gewechselt. Es gab Wallander zu denken, daß die Änderungen so abrupt kamen und unüberlegt zu sein schienen.
Sie schenkte Tee aus einer Thermoskanne ein und fragte plötzlich, warum es so schwer sei, in Schweden zu leben.
»Manchmal stelle ich mir vor«, sagte Wallander, »daß es damit zu tun hat, daß wir aufgehört haben, unsere Strümpfe zu stopfen.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Ich meine das ernst«, sagte er. »Als ich groß wurde, war Schweden noch ein Land, in dem man seine Strümpfe stopfte. Ich habe es sogar noch in der Schule gelernt. Dann plötzlich eines Tages war Schluß damit. Kaputte Strümpfe wurden weggeworfen. Keiner stopfte mehr seine Wollsocken. Die ganze Gesellschaft veränderte sich. Verbrauchen und Wegwerfen wurde zur einzigen Regel, die wirklich alle vereinte. Es gab zwar Menschen, die darauf beharrten, ihre Sachen zu flicken. Aber man sah und hörte sie nicht. Solange es nur die Strümpfe betraf, war diese Veränderung vielleicht nicht so gravierend. Aber das Prinzip griff um sich. |298| Schließlich wurde es zu einer Art unsichtbarer, aber ständig gegenwärtiger Moral. Ich glaube, das hat unsere Auffassung von richtig und falsch verändert, was man gegenüber anderen Menschen tun durfte, und was man nicht tun durfte. Alles ist so viel härter geworden. Immer mehr Menschen, vor allem die jungen, wie du, fühlen sich überflüssig oder sogar unwillkommen im eigenen Land. Wie reagieren sie? Mit Aggression und Verachtung. Am erschreckendsten ist meiner Meinung nach, daß wir uns erst am Anfang von etwas befinden, was sich noch verschlimmern wird. Es wächst im Moment eine Generation auf – die, die jünger sind als du –, die mit noch größerer Aggressivität reagieren
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