Wallander 06 - Die fünfte Frau
wird. Und die haben keine Erinnerung daran, daß es tatsächlich einmal eine Zeit gegeben hat, wo wir unsere Wollsocken gestopft haben. Wo wir weder Wollsocken noch Menschen verbraucht und weggeworfen haben.«
Wallander wußte nichts mehr zu sagen, obwohl er sah, daß sie auf eine Fortsetzung wartete. »Vielleicht drücke ich mich nicht besonders klar aus«, sagte er.
»Das stimmt«, sagte sie. »Aber ich glaube, ich ahne, worauf du hinauswillst.«
»Es ist ja auch möglich, daß ich völlig falsch denke. Vielleicht hat man zu allen Zeiten die Vergangenheit als besser empfunden.«
»Ich habe nie gehört, daß Großvater etwas darüber gesagt hat.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Er hat ganz in seiner eigenen Welt gelebt. Er hat seine Bilder gemalt, wo er den Lauf der Sonne bestimmen konnte. Sie hing an der gleichen Stelle, fünfzig Jahre lang, oberhalb des Baumstumpfs, mit Auerhahn oder ohne. Manchmal glaube ich, daß er nicht wußte, was außerhalb des Hauses, in dem er wohnte, vor sich ging. Er hatte eine unsichtbare Mauer aus Terpentin um sich errichtet.«
»Du irrst dich«, sagte sie. »Er wußte viel.«
»Dann hat er es jedenfalls vor mir geheimgehalten.«
»Er hat sogar manchmal Gedichte geschrieben.«
Wallander sah sie ungläubig an. »Er hat Gedichte geschrieben?«
»Er hat mir einmal einige gezeigt. Vielleicht hat er sie später verbrannt. Aber er hat Gedichte geschrieben.«
»Schreibst du auch Gedichte?« fragte Wallander.
|299| »Vielleicht. Ich weiß nicht, ob es Gedichte sind. Aber manchmal schreibe ich. Du nicht?«
»Nein«, erwiderte Wallander. »Nie. Ich lebe in einer Welt von schlecht geschriebenen Polizeiberichten und abstoßend detaillierten gerichtsmedizinischen Protokollen. Ganz zu schweigen von all den Verlautbarungen der Reichspolizeibehörde.«
Sie wechselte so abrupt das Thema, daß er nachher glaubte, sie hätte sich genau vorbereitet. »Wie geht es mit Baiba?«
»Gut. Wie es mit uns weitergeht, weiß ich nicht. Aber ich hoffe, sie kommt her. Ich hoffe, daß sie hier leben will.«
»Was sollte sie denn in Schweden tun?«
»Sie würde mit mir leben«, sagte Wallander verwundert.
Linda schüttelte langsam den Kopf.
»Warum sollte sie das nicht tun?«
»Nimm es mir nicht übel«, sagte sie. »Aber ich hoffe, du weißt, daß du ein Mensch bist, mit dem nicht leicht zu leben ist.«
»Und warum?«
»Denk an Mama. Warum, glaubst du, wollte sie ein anderes Leben leben?«
Wallander antwortete nicht. Auf unklare Weise fühlte er sich gekränkt.
»Jetzt bist du sauer«, sagte sie.
»Nein, nicht sauer.«
»Was dann?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich müde.«
Sie stand von ihrem Stuhl auf und setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Es geht doch nicht darum, daß ich dich nicht gern habe«, sagte sie. »Es ist vielleicht nur, weil ich erwachsen werde. Unsere Gespräche werden sich verändern.«
Er nickte. »Ich habe mich wohl noch nicht daran gewöhnt«, sagte er. »Vielleicht ist es einfach das.«
Als ihr Gespräch einschlief, sahen sie einen Film im Fernsehen an. Linda mußte früh am nächsten Morgen nach Stockholm zurückkehren. Aber Wallander fand trotzdem, daß er einen Blick in die Zukunft geworfen hatte. Von nun an würden sie sich treffen, wenn sie beide Zeit hatten. Und von nun an würde sie außerdem immer das sagen, was sie wirklich meinte.
|300| Kurz vor ein Uhr trennten sie sich im Hotelflur.
Danach lag Wallander noch lange wach und versuchte, sich klarzumachen, ob er etwas verloren oder etwas gewonnen hatte. Das Kind war fort. Linda war erwachsen geworden.
Sie trafen sich um sieben Uhr beim Frühstück.
Anschließend begleitete er sie auf dem kurzen Weg zum Bahnhof. Als sie auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug warteten, der ein paar Minuten Verspätung hatte, begann sie plötzlich zu weinen. Wallander war ratlos. Noch einen Moment zuvor hatte sie keinerlei Anzeichen erkennen lassen, daß sie innerlich bewegt war.
»Was ist denn?« fragte er. »Ist etwas passiert?«
»Großvater fehlt mir so«, antwortete sie. »Ich träume jede Nacht von ihm.«
Wallander nahm sie in den Arm. »Das tue ich auch«, sagte er.
Der Zug kam. Wallander wartete, bis er abgefahren war. Der Bahnsteig war öde und leer. Er kam sich einen Moment lang wie ein vergessener oder verlorener Mensch vor, vollkommen kraftlos.
Er fragte sich, woher er die Kraft zum Weitermachen nehmen sollte.
|301| 22
Als Wallander zum Hotel zurückkam, wartete eine Mitteilung von Melander in
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