Wallander 06 - Die fünfte Frau
all seiner Jahre in diesem Beruf hatte die Polizei zahllose und durchgreifende Veränderungen durchgemacht. Nicht zuletzt galt dies dem stets komplizierten Verhältnis zu dem undeutlichen und drohenden Schatten, den man »die Allgemeinheit« nannte. Diese Allgemeinheit, die wie ein Alptraum sowohl über der Reichspolizeibehörde wie über dem einzelnen Polizisten schwebte, zeichnete sich vor allem durch eins aus: Treulosigkeit. Der jüngste Versuch, die Allgemeinheit zufriedenzustellen, bestand nun darin, das gesamte schwedische Polizeikorps landesweit in eine bürgernahe Polizei umzuwandeln. Wie das eigentlich zu bewerkstelligen war, wußte niemand. Der Reichspolizeichef hatte an alle erreichbaren Tore seine Thesen angeschlagen und damit verkündet, wie wichtig es war, daß die Polizei
sichtbar
war. Aber weil noch niemand davon gehört hatte, daß die Polizei bisher unsichtbar gewesen war, konnte auch keiner begreifen, wie diese neue Liturgie befolgt werden sollte. Fußstreifen hatte man bereits. Inzwischen gab es auch schnelle Minikommandos, die mit Fahrrädern unterwegs waren. Der Reichspolizeichef meinte vermutlich eine geistige Sichtbarkeit. Deshalb hatte man also wieder |48| einmal das Projekt der bürgernahen Polizei abgestaubt. Bürgernahe Polizei klang freundlich, wie ein weiches Kopfkissen. Doch wie dies mit der Tatsache kombiniert werden sollte, daß die Kriminalität in Schweden immer grober und gewaltsamer wurde, konnte keiner so recht erklären. Sicher war es Bestandteil der neuen Strategie, daß man Zeit aufwendete, um sich darüber auszulassen, wie passend oder unpassend der Name Freunde der Axt für einen neugegründeten Heimatverein war.
Wallander verließ Svedbergs Zimmer und holte sich eine Tasse Kaffee. Dann zog er sich in sein eigenes Zimmer zurück und fing wieder an, das umfangreiche Ermittlungsmaterial auf seinem Tisch zu sichten. Zunächst fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Die Gedanken an das Gespräch mit Baiba am Abend zuvor drängten sich immer wieder vor. Aber er zwang sich, wieder Polizeibeamter zu werden. Nach ein paar Stunden hatte er sich die Ermittlung so weit vergegenwärtigt, daß er wieder an dem Punkt angelangt war, an dem er vor seiner Abreise nach Italien gewesen war. Er rief einen Kollegen in Göteborg an, mit dem er zusammenarbeitete, und sprach einige Berührungspunkte mit ihm durch. Als er das Gespräch beendete, war es schon zwölf. Wallander war hungrig. Es regnete noch immer. Er ging zu seinem Wagen, fuhr ins Zentrum und aß in einem der Mittagsrestaurants. Um ein Uhr kam er zurück ins Präsidium. Er hatte sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt, als das Telefon klingelte. Es war Ebba von der Anmeldung.
»Du hast Besuch«, sagte sie.
»Wer denn?«
»Ein Mann, der Tyrén heißt. Er will mit dir sprechen.«
»Worum geht es?«
»Um jemand, der vielleicht verschwunden ist.«
»Kann das kein anderer übernehmen?«
»Er sagt, er will unbedingt mit dir sprechen.«
Wallander ließ seinen Blick über den Tisch mit den aufgeschlagenen Mappen gleiten. Nichts davon war so dringend, daß er nicht eine Vermißtenmeldung aufnehmen konnte. »Schick ihn hoch«, sagte er.
Er öffnete die Tür und begann, die Mappen vom Schreibtisch |49| zu räumen. Als er aufblickte, stand ein Mann in der Tür. Wallander hatte ihn noch nie gesehen. Er trug einen Overall, der erkennen ließ, daß er für OK arbeitete. Als er ins Zimmer trat, nahm Wallander einen Geruch von Öl und Benzin wahr.
Er gab dem Mann die Hand und bot ihm einen Stuhl an. Der Mann war um die Fünfzig, hatte graues schütteres Haar und war unrasiert. Er stellte sich als Sven Tyrén vor.
»Sie wollten mit mir sprechen«, sagte Wallander.
»Soweit ich weiß, sind Sie ein guter Polizist«, sagte Sven Tyrén. Sein Akzent ließ darauf schließen, daß er ursprünglich aus dem westlichen Schonen kam, wo auch Wallander herstammte.
»Die meisten Polizisten sind gut«, entgegnete Wallander.
Sven Tyréns Antwort überraschte ihn: »Sie wissen selbst, daß das nicht stimmt«, sagte er. »Ich habe zu meiner Zeit für dies und das gesessen, und ich habe viele Polizisten getroffen, die, ganz offen gesagt, saumäßig waren.«
Seine Worte kamen mit solchem Nachdruck, daß es Wallander die Sprache verschlug. Er beschloß, diese Diskussion fallenzulassen. »Ich nehme an, Sie sind nicht hergekommen, um mir das zu sagen«, sagte er statt dessen. »Es geht um eine Vermißtenmeldung?«
Sven Tyrén rollte sein O K-Käppi
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