Wallander 06 - Die fünfte Frau
Öland sein konnte. Irgendwann am Anfang des Jahrhunderts aufgenommen. Katarina |448| Taxells Großeltern? Auch hier stand nichts auf der Rückseite. Er stellte das Bild zurück. Kein Mann, dachte er. Blomberg ist nicht da. Das ist erklärlich. Aber auch kein anderer Mann. Der Vater, den es geben muß. Hatte das etwas zu bedeuten? Alles hatte etwas zu bedeuten. Nacheinander zog er die kleinen Schubfächer im oberen Teil des Sekretärs heraus. Briefe, Dokumente, Rechnungen. In einem Fach alte Schulzeugnisse. In Geographie hatte sie die beste Note. Dagegen war sie schwach in Physik und Mathematik. Das nächste Fach. Fotos aus einem Paßbildautomaten. Drei Mädchengesichter, dicht zusammengedrängt, Grimassen schneidend. Ein anderes Bild. Strøget in Kopenhagen. Sie sitzen auf einer Bank. Lachen. Katarina Taxell ganz rechts, am Ende der Bank. Auch sie lacht. Noch ein Fach mit Briefen. Einige noch von 1972. Eine Briefmarke mit dem Regalschiff »Wasa«. Wenn der Sekretär Katarina Taxells persönlichste Geheimnisse verbirgt, so hat sie kaum welche, dachte Wallander. Ein unpersönliches Leben. Keine Leidenschaften, keine Sommerabenteuer auf griechischen Inseln. Aber eine Eins in Geographie. Er sah die Fächer weiter durch, aber nichts erregte seine Aufmerksamkeit. Dann ging er zu den drei großen unteren Schubladen über. Noch immer keine Tagebücher. Nicht einmal Kalender. Wallander empfand Unbehagen angesichts dieses Suchens in Schichten von unpersönlichen Erinnerungsbildern. Katarina Taxells Leben hatte keine Spuren hinterlassen. Er sah die Frau nicht. Hatte sie sich selbst gesehen?
Er schob den Stuhl zurück und schloß die letzte Schublade. Nichts. Er wußte nicht mehr als vorher. Er runzelte die Stirn. Etwas stimmte da nicht. Wenn ihr Entschluß fortzugehen schnell gefaßt worden war, und davon war er überzeugt, hatte sie nicht viel Zeit gehabt, alles mitzunehmen, was sie eventuell nicht offenbaren wollte. Die Tagebücher hatte sie sicher in Reichweite. Die würde sie retten können, wenn es brannte. Aber es gibt fast immer auch eine ungeordnete Seite im Leben eines Menschen. Hier gab es nichts. Er rückte vorsichtig den Sekretär von der Wand ab. Nichts war an der Rückseite befestigt. Nachdenklich setzte er sich wieder. Da war etwas, was er gesehen hatte, was ihm aber erst jetzt bedeutungsvoll schien. Er saß unbeweglich und versuchte sich zu erinnern. Nicht die Fotos, auch nicht die Briefe. Aber was dann? |449| Die Zeugnisse? Der Mietvertrag? Die Rechnungen von ihrer Kreditkarte? Nichts von alledem. Was blieb dann noch?
Dann war es das Möbelstück. Der Sekretär. Es war etwas mit den kleinen Schubfächern. Er zog eines davon vor, dann das nächste, verglich sie. Dann nahm er sie heraus und guckte hinein. Auch nichts. Er schob die Fächer wieder zurück. Zog das oberste auf der linken Seite heraus, dann das nächste. Da entdeckte er es. Die Fächer waren verschieden hoch. Er zog das kleinere heraus und drehte es um. Dort war noch eine Öffnung. Das Fach war unterteilt, es hatte auf der Unterseite ein Geheimfach. Er öffnete es. Da lag nur ein kleines Heft. Er nahm es heraus und legte es vor sich auf den Tisch.
Ein Fahrplan der Schwedischen Eisenbahn. Vom Frühjahr 1991. Die Verbindungen zwischen Malmö und Stockholm.
Er nahm die anderen Schubladen heraus und fand noch ein weiteres Geheimfach. Es war leer.
Er lehnte sich in den Stuhl zurück und betrachtete den Fahrplan. Er konnte nicht verstehen, was das zu bedeuten hatte. Aber noch schwerer zu verstehen war, warum er in einem Geheimfach lag. Er konnte nicht durch einen Irrtum dort hingekommen sein.
Birch betrat das Zimmer.
»Sieh dir das einmal an«, sagte Wallander.
Birch stellte sich hinter ihn. Wallander zeigte auf den Fahrplan. »Der hier lag in Katarina Taxells geheimstem Winkel.«
»Ein Fahrplan?«
Wallander schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht«, sagte er.
Er blätterte ihn durch, Seite für Seite. Birch hatte einen Stuhl herangezogen und sich neben ihn gesetzt. Wallander blätterte weiter. Nichts Geschriebenes, keine Seite hatte Eselsohren oder fiel von selbst auf. Erst als er zur vorletzten Seite kam, hielt er ein. Birch hatte es auch entdeckt. Eine Abfahrtszeit von Nässjö war unterstrichen. Nässjö nach Malmö. Abfahrt 16 Uhr. Ankunft in Lund 18 Uhr 42. Malmö 18 Uhr 57.
Nässjö 16 Uhr. Jemand hatte sämtliche Zeiten unterstrichen. Wallander sah Birch an. »Sagt dir das was?«
»Nichts.«
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