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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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war da etwas. Eine Spur.
    Er betrachtete das Foto noch einmal. Die Männer lachten. Er fragte sich, ob Holger Eriksson der Fotograf war. Aber Holger Eriksson hatte in Ystad, Tomelilla und Sjöbo erfolgreich Autos verkauft. Er hatte an keinem entlegenen afrikanischen Krieg teilgenommen. |130| Oder doch? Sie kannten immer noch nur einen Bruchteil von Holger Erikssons Leben.
    Wallander betrachtete nachdenklich das vor ihm liegende Tagebuch. Er steckte das Foto in die Jackentasche, nahm das Buch und ging zu Nyberg hinüber, der gerade das Badezimmer einer technischen Untersuchung unterzog.
    »Ich nehme das Tagebuch mit«, sagte er. »Die Kalender lasse ich da.«
    »Bringt das was?« fragte Nyberg.
    »Ich glaube schon«, sagte Wallander. »Wenn jemand was von mir will, ich bin zu Hause.«
    Als er auf den Hofplatz hinauskam, sah er, daß ein paar Polizisten dabei waren, die Absperrungen am Graben zu entfernen.
     
    Eine Stunde später saß er am Küchentisch. Langsam begann er, das Tagebuch zu lesen.
    Die erste Eintragung war vom 20.   November 1960.

|131| 10
    Es dauerte sechs Stunden, bis Wallander das Tagebuch von Anfang bis Ende durchgelesen hatte. Allerdings war er mehrmals unterbrochen worden. Ein paarmal klingelte das Telefon. Kurz nach vier am Nachmittag war auch Ann-Britt Höglund vorbeigekommen. Doch Wallander hatte versucht, die Unterbrechungen so kurz wie möglich zu halten. Das Tagebuch war das Faszinierendste, aber auch das Erschreckendste, was er je in der Hand gehalten hatte. Es berichtete von einigen Monaten im Leben eines Menschen, und für Wallander war es, als trete er in eine fremde Welt ein. Obwohl Harald Berggren, wer immer er auch sein mochte, nicht als ein Meister des Wortes bezeichnet werden konnte – im Gegenteil, er drückte sich oft sentimental oder mit einer Unsicherheit aus, die zuweilen in Hilflosigkeit überging   –, so hatte doch der Inhalt, die Schilderung seiner Erlebnisse, eine Anziehungskraft, die stets stärker war als die sprachlich dürftigen Übergangspassagen.
    Wallander ahnte, daß das Tagebuch wichtig war, damit sie einen Durchbruch erzielen und verstehen konnten, was Holger Eriksson passiert war. Gleichzeitig spürte er so etwas wie einen warnend erhobenen Finger. Es konnte auch ein Weg sein, der sie vollständig in die Irre führte, von der Lösung fort. Wallander wußte, daß die meisten Wahrheiten zugleich erwartet und unerwartet waren. Es kam nur darauf an, zu wissen, wie die Zusammenhänge zu deuten waren. Eine Verbrechensermittlung glich außerdem nie einer anderen, zumindest nicht in der Tiefe, wenn sie anfingen, die Schicht der äußeren Ähnlichkeit zu durchstoßen.
    Harald Berggrens Tagebuch war ein Kriegstagebuch. Während des Lesens erfuhr er auch die Namen der beiden anderen Männer auf dem Foto, aber wer von ihnen wer war, blieb ihm unklar. Die Männer rechts und links von Harald Berggren auf dem Foto waren ein Ire, Terry O’Banion, und ein Franzose, Simon Marchand. |132| Das Bild war von einem Mann namens Raul aufgenommen worden, dessen Nationalität nicht klar wurde. Zusammen hatten sie gut ein Jahr lang an einem afrikanischen Krieg teilgenommen, und alle waren Legionäre gewesen. Am Anfang des Tagebuchs beschrieb Harald Berggren, wie er irgendwo in Stockholm von einem Café in Brüssel gehört hatte, wo man Kontakte zu der dunklen Welt der Legionäre knüpfen konnte. Er notiert, daß er bereits zu Neujahr 1958 davon gehört habe. Er schreibt nichts darüber, warum es ihn einige Jahre später dorthin getrieben hat. Harald Berggren tritt sozusagen aus dem Nichts in sein eigenes Tagebuch ein. Er hat keine Vergangenheit, keine Eltern, keinen Hintergrund. Im Tagebuch tritt er auf einer leeren Bühne auf. Das einzige, was klar wird, ist, daß er dreiundzwanzig Jahre alt ist und verzweifelt darüber, daß Hitler den Krieg verloren hat, der fünfzehn Jahre zuvor zu Ende gegangen ist.
    Wallander hielt an diesem Punkt inne. Harald Berggren benutzte genau dieses Wort,
verzweifelt
. Wallander las den Satz wieder und wieder.
Die verzweifelte Niederlage, die Hitler wegen seiner verräterischen Generale hinnehmen mußte.
Wallander versuchte zu verstehen. Daß Harald Berggren das Wort verzweifelt benutzte, sagte etwas Entscheidendes über ihn aus. Gab er einer politischen Überzeugung Ausdruck? Oder war er überspannt und verwirrt? Wallander konnte keine Anhaltspunkte finden, die ihm ermöglichten, dies zu entscheiden. Harald Berggren kommentierte es auch nicht weiter.

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