Wallander 06 - Die fünfte Frau
sollte. Die Fotos, die der Vater mit seiner altertümlichen Kamera gemacht hatte, waren fertig.
Den Rest des Samstagabends verbrachte Wallander damit, eine Zusammenfassung über den Mord an Holger Eriksson zu machen. Parallel dazu ging er im Kopf das Verschwinden Gösta Runfelts durch. Er war unruhig und rastlos und konnte sich nur schwer konzentrieren.
Die dunkle Ahnung, daß sie sich erst am äußersten Rand von etwas sehr Großem befanden, wuchs immer mehr.
Seine Unruhe ließ ihm keinen Frieden.
|139| Um neun Uhr war er so müde, daß er nicht mehr denken konnte. Er schob seinen Schreibblock zur Seite und rief Linda an. Das Telefon klingelte ins Leere. Sie war nicht zu Hause. Er zog eine dicke Jacke an und ging zu Fuß ins Zentrum. Dort aß er in einem chinesischen Restaurant am Markt. Es war ungewöhnlich gut besucht. Ihm fiel ein, daß Samstagabend war. Er gönnte sich eine Karaffe Wein und bekam sogleich Kopfschmerzen. Als er nach Hause ging, regnete es wieder.
In der Nacht träumte er von Harald Berggrens Tagebuch. Er befand sich in einem großen Dunkel, es war sehr heiß, und irgendwo aus dem kompakten Dunkel zeigte Harald Berggren mit einer Waffe auf ihn.
Er erwachte früh.
Der Regen hatte aufgehört. Es war wieder klar.
Um Viertel nach sieben setzte er sich in den Wagen und fuhr zu seinem Vater. Das Morgenlicht gab der Landschaft scharfe, klare Konturen. Wallander überlegte, ob er versuchen sollte, seinen Vater und Gertrud mit an den Strand zu locken. Bald würde es so kalt sein, daß es nicht mehr möglich wäre.
Er dachte mit einem unguten Gefühl an seinen Traum. Außerdem machte er sich klar, daß sie bei der Besprechung am Nachmittag einen Zeitplan erstellen sollten, in welcher Reihenfolge sie Antworten auf verschiedene Fragen bekommen mußten. Harald Berggren zu lokalisieren war wichtig. Nicht zuletzt, wenn sich herausstellen sollte, daß sie eine Spur verfolgten, die nirgendwohin führte.
Als er auf den Hofplatz vor dem Haus seines Vaters einbog, stand der alte Herr auf der Treppe, um ihn zu begrüßen. Sie hatten sich seit der Reise nach Rom nicht gesehen. In der Küche hatte Gertrud den Frühstückstisch gedeckt. Zusammen betrachteten sie die Bilder, die der Vater gemacht hatte. Viele waren unscharf. Bei einigen war das Motiv teilweise außerhalb des Bildrandes gelandet. Aber weil sein Vater stolz und zufrieden war, nickte Wallander nur anerkennend.
Ein Bild unterschied sich von den anderen. Es war an ihrem letzten Abend in Rom aufgenommen worden. Sie hatten gerade |140| ihre Mahlzeit beendet. Wallander und sein Vater sind zusammengerückt. Auf dem weißen Tischtuch steht eine halb geleerte Flasche Rotwein. Beide lächeln in die Kamera. Einen Moment lang flimmerte die verblichene Fotografie aus Harald Berggrens Tagebuch in Wallanders Kopf vorüber. Aber er schob sie beiseite. Jetzt wollte er seinen Vater und sich selbst ansehen. Er spürte, daß das Bild festhielt, was sie während der Reise entdeckt hatten.
Sie waren sich im Aussehen ähnlich. Sie waren sich sogar sehr ähnlich.
»Von dem Bild hätte ich gern einen Abzug«, sagte Wallander.
»Das habe ich schon erledigt«, sagte sein Vater zufrieden und schob einen Umschlag mit dem Bild zu ihm hinüber.
Nach dem Frühstück gingen sie ins Atelier seines Vaters. Er arbeitete an einer Landschaft mit einem Auerhahn. Den Vogel malte er also als letztes.
»Wie viele Bilder hast du in deinem Leben gemalt?« fragte Wallander.
»Das fragst du jedesmal, wenn du hier bist«, erwiderte sein Vater. »Wie kann ich das wissen? Wozu wäre das gut? Die Hauptsache ist, daß sie einander gleichen. Eines dem anderen.«
Wallander war sich schon lange darüber im klaren, warum sein Vater ständig das gleiche Motiv malte. Es war seine Art und Weise, all das zu beschwören, was sich um ihn herum veränderte. In seinen Bildern beherrschte er sogar den Gang der Sonne. Sie war da, unbeweglich, wie festgenagelt, stets in der gleichen Höhe über den bewaldeten Höhenzügen.
»Es war eine schöne Reise«, sagte Wallander und beobachtete den Vater, der Farbe anmischte.
»Ich habe doch gesagt, daß sie schön würde«, erwiderte sein Vater. »Ohne sie wärst du ins Grab gegangen, ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben.«
Wallander überlegte einen Augenblick lang, ob er jetzt den Vater nach seiner einsamen Wanderung in einer ihrer letzten Nächte fragen sollte. Aber er ließ es bleiben. Es war ein Geheimnis, das nur ihn selbst etwas
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