Wallander 06 - Die fünfte Frau
anging.
Wallander schlug vor, zum Meer hinunterzufahren. Zu seiner Verblüffung stimmte der Vater sofort zu. Doch Gertrud zog es vor, |141| zu Hause zu bleiben. Kurz nach zehn setzten sie sich in Wallanders Wagen und fuhren hinunter nach Sandhammaren. Es war fast windstill. Sie gingen zum Strand. Sein Vater griff nach Wallanders Arm, als sie über die letzte Düne stiegen. Dann breitete sich das Meer vor ihnen aus. Der Strand war nahezu menschenleer. Nur in der Ferne sahen sie einige Spaziergänger mit einem Hund spielen. Das war alles.
»Das ist schön«, sagte sein Vater.
Wallander betrachtete ihn verstohlen. Es war, als habe die Reise nach Rom die Stimmung des Vaters grundlegend verändert. Vielleicht zeigte es sich ja, daß sie auch eine positive Einwirkung auf die schleichende Krankheit hatte, die die Ärzte bei seinem Vater konstatiert hatten. Aber er wußte auch, daß er selbst nie ganz verstehen würde, was die Reise dem Vater bedeutet hatte. Es war die Reise seines Lebens, und Wallander war die Gunst zuteil geworden, ihn dabei zu begleiten.
Rom war sein Mekka gewesen.
Sie gingen langsam am Strand entlang. Wallander dachte, daß es nun vielleicht möglich wäre, mit ihm über vergangene Zeiten zu reden. Aber das eilte nicht.
Plötzlich hielt sein Vater inne.
»Was ist?« fragte Wallander.
»Mir ist ein paar Tage nicht gut gewesen«, sagte der Vater. »Aber das geht rasch vorüber.«
»Möchtest du, daß wir umkehren?«
»Ich sage doch, daß es rasch vorübergeht.«
Wallander merkte, daß der Vater in seine alte unangenehme Gewohnheit zurückfiel, ihm auf seine Fragen mürrisch zu antworten. Deshalb sagte er nichts mehr.
Ein Schwarm Zugvögel strich über ihren Köpfen nach Westen. Erst nach zwei Stunden am Strand meinte sein Vater, daß es genug sei. Wallander hatte nicht auf die Zeit geachtet und sah, daß er sich jetzt beeilen mußte, um nicht zu spät zur Besprechung im Präsidium zu kommen.
Mit einem Gefühl der Erleichterung kehrte er nach Ystad zurück, nachdem er den Vater nach Löderup gebracht hatte. Auch wenn der Vater seiner schleichenden Krankheit nicht entrinnen |142| konnte, hatte die Reise nach Rom ihm offenbar viel bedeutet. Vielleicht konnten sie jetzt wieder an das alte Verhältnis anknüpfen, das sie vor so vielen Jahren hatten – bis zu dem Tag, an dem Wallander sich entschloß, Polizeibeamter zu werden. Sein Vater hatte die Berufswahl des Sohnes nie akzeptiert, ohne jedoch erklären zu können, was er dagegen hatte. Auf dem Rückweg nach Ystad dachte Wallander, daß er jetzt vielleicht eine Antwort auf diese Frage bekäme, über die er so viele Jahre seines Lebens nachgegrübelt hatte.
Um halb drei schlossen sie die Türen des Konferenzraums hinter sich. Auch Lisa Holgersson hatte sich eingefunden. Als Wallander sie sah, fiel ihm ein, daß er Per Åkesson noch immer nicht angerufen hatte. Um es nicht noch einmal zu vergessen, machte er sich eine Notiz auf seinem Schreibblock.
Dann berichtete er von dem Fund des geschrumpften Menschenkopfes und von Harald Berggrens Tagebuch. Als er fertig war, herrschte Einigkeit darüber, daß dies wirklich etwas war, was einer Spur ähnelte. Nachdem sie verschiedene Aufgaben unter sich verteilt hatten, leitete Wallander zu Gösta Runfelt über.
»Von jetzt an müssen wir davon ausgehen, daß Gösta Runfelt etwas zugestoßen ist«, sagte er. »Wir können weder ein Unglück noch ein Verbrechen ausschließen. Natürlich bleibt immer noch die Möglichkeit, daß es sich um ein freiwilliges Verschwinden handelt. Dagegen glaube ich, daß wir von einer Verbindung zwischen Holger Eriksson und Gösta Runfelt absehen können. Es kann eine geben. Aber es ist wenig wahrscheinlich. Nichts spricht dafür.«
Wallander wollte so schnell wie möglich zum Ende kommen. Immerhin war Sonntag. Er wußte, daß seine Mitarbeiter das ihnen Mögliche taten, um ihre Aufgaben zu erledigen. Aber er wußte auch, daß die beste Arbeit zuweilen darin bestand, sich auszuruhen. Die Stunden mit seinem Vater am Strand hatten ihm neue Kräfte gegeben. Als er kurz nach vier das Präsidium verließ, fühlte er sich so ausgeruht wie schon seit Tagen nicht mehr. Auch die Unruhe hatte sich für eine Weile gelegt.
Wenn sie Harald Berggren fänden, sprach viel dafür, daß sie |143| auch die Lösung gefunden hatten. Der Mord war zu ausgeklügelt, um nicht von einem ganz speziellen Täter begangen worden zu sein.
Harald Berggren konnte genau dieser Täter sein.
Auf dem Weg
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