Wallander 07 - Mittsommermord
Wirklichkeit wiedererschaffen, exakt wie sie vor einundfünfzig Tagen gewesen war. Der Augenblick war gekommen, in dem er sie der allgemeinen Betrachtung darbieten würde.
Um fünf Uhr war er aufgestanden. Er änderte seine Gewohnheiten nicht, nur weil er einen freien Tag hatte. Nachdem er eine Tasse von dem speziellen Tee getrunken hatte, den er aus Shanghai direkt importierte, schlug er den roten Teppich zur Seite und absolvierte seine Morgengymnastik. Nach zwanzig Minuten maß er seinen Puls, notierte das Resultat im Trainingsbuch und duschte. Um Viertel nach sechs setzte er sich an den Schreibtisch und begann zu arbeiten. Heute ging er einen umfassenden Bericht durch, den er vom Ministerium für Arbeit angefordert hatte und in dem verschiedene Maßnahmen zur Beseitigung der hohen Arbeitslosigkeit diskutiert wurden. Mit einem Bleistift machte er Unterstreichungen und schrieb zuweilen Anmerkungen an den |157| Rand. Aber nichts war neu oder unerwartet. Alle Schlußfolgerungen, die der Beamte aus der Statistik und aus den Analysen gezogen hatte, waren ihm bereits bekannt.
Er legte den Bleistift zur Seite und dachte an die anonymen Menschen, die den sinnlosen Bericht formuliert hatten. Sie riskierten nicht, arbeitslos zu werden. Ihnen wäre nie das Glück vergönnt, das Dasein zu durchschauen, zu sehen, was tatsächlich etwas bedeutete. Was dem Menschen seinen eigentlichen Wert gab.
Er las bis zehn Uhr. Dann zog er sich an und ging einkaufen. Anschließend bereitete er sein Mittagessen zu und machte einen Mittagsschlaf bis zwei Uhr.
Sein Schlafzimmer war schallisoliert. Es hatte viel Geld gekostet, war aber seinen Preis wert. Kein Straßengeräusch drang zu ihm herein. Die Fenster waren zugemauert. Eine lautlos arbeitende Frischluftanlage gab ihm die Luft, die er atmen wollte. An einer Wand hing eine erleuchtete Weltkarte. Darauf konnte er verfolgen, wie die Sonne über den Erdball wanderte. Dieses Zimmer war sein Zentrum. Hier konnte er vollkommen klar denken. An das, was geschehen war, und an das, was geschehen würde.
Der schallisolierte Raum war ein Mittelpunkt. Hier herrschte eine Klarheit, wie er sie sonst nirgendwo erleben konnte.
Hier brauchte er nie daran zu denken, wer er war. Auch nicht daran, daß er recht hatte.
Recht hatte damit, daß es keine Gerechtigkeit gab.
Es war auf einer Konferenz in einem Hotel irgendwo im jämtländischen Gebirge. Der Chef des Ingenieurbüros, in dem er damals arbeitete, hatte plötzlich in der Tür gestanden und gesagt, er müsse dorthin reisen. Ein anderer war krank geworden. Natürlich hatte er zugestimmt, obwohl er eigentlich andere Pläne für das Wochenende gemacht hatte. Er hatte zugestimmt, weil er seinem Chef nicht darin widersprechen wollte, daß genau er der Richtige dafür war. Es ging um die neue digitale Technik. Die Konferenz wurde von einem älteren Mann geleitet, der früher in der Produktion der mechanischen Kassen in Åtvidaberg tätig gewesen war. Er sprach über die neue Zeit, und alle Teilnehmer saßen da, über ihre Notizblöcke gebeugt.
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An einem der Abende, vielleicht am letzten, waren sie in die Sauna gegangen. Aber er wollte nicht in die Sauna gehen. Er mochte sich nicht nackt vor anderen Männern zeigen. Er wußte nicht, wie er reagieren würde. Deshalb hatte er in der Bar gewartet, während die anderen schwitzten. Hinterher wurde getrunken. Einer hatte angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Über die richtige Methode, Leute zu entlassen. Außer ihm selbst waren es alles Männer in leitenden Positionen, er war noch ein kleiner Ingenieur. Sie hatten Geschichten erzählt, die eine ergab die andere, und schließlich hatten sie ihn angesehen, und er hatte nicht gewußt, was er erzählen sollte. Er hatte nie jemanden entlassen. Er hatte auch nie daran gedacht, daß er selbst seine Arbeit verlieren könnte. Er hatte studiert, er beherrschte seine Arbeit, er zahlte sein Studiendarlehen ab. Und er widersprach nicht.
Später, als die Katastrophe eingetreten war, hatte er sich plötzlich an eine der Geschichten erinnert. Ein kleiner, widerlich fetter Mensch aus einer Maschinenfabrik in Torshälla hatte erzählt, wie er einen altgedienten Mitarbeiter in sein Büro gerufen und zu ihm gesagt hatte: »Ich weiß nicht, wie wir die ganzen Jahre ohne Sie ausgekommen wären.«
Dann hatte er gelacht. »Das war genau die richtige Methode. Der Alte war so stolz und froh, daß er seine Wachsamkeit vergaß. Dann war es einfach. Ich sagte nur: Aber
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