Wallander 08 - Die Brandmauer
einmal so aus, als befände ich mich mitten im Zentrum. Wie ein Fürst, dessen Thronfolger immer ungeduldiger wird.
Trotz seiner Widerstände rief er Martinsson über dessen Handy an. Robert Modin war am Abend vorher von Löderup in die Stadt gekommen. Er hatte seinen Vater überredet, ihn zu fahren. Sie mußten ihn ernst nehmen. Vielleicht hatte er Martinsson schon angerufen. Falls nicht, wollte Wallander den Kollegen bitten, mit Modin Kontakt aufzunehmen. Martinsson meldete sich sofort. Er hatte gerade geparkt und war auf dem Weg ins Flughafengebäude. Modin hatte ihn nicht angerufen. Wallander faßte sich kurz.
»Ein bißchen komisch kommt mir das schon vor«, sagte Martinsson. »Wie kann er auf etwas gestoßen sein, ohne Zugang zum Rechner zu haben?«
»Das mußt du ihn fragen.«
»Er ist gerissen«, sagte Martinsson. »Wenn er mal nicht einen Teil des Materials auf seinen eigenen Rechner kopiert hat.«
Martinsson versprach, ihn anzurufen. Sie verabredeten, später am Vormittag wieder zu telefonieren.
Wallander steckte das Handy ein und dachte, daß Martinsson so wirkte wie immer. Entweder war er bedeutend geschickter darin, sich zu verstellen, als Wallander geahnt hätte, oder an dem, was Ann-Britt gesagt hatte, stimmte etwas nicht.
Um Viertel vor neun betrat er daS Präsidium. In seinem Zimmer |441| lag ein Zettel, daß Hansson sofort mit ihm sprechen wolle. »Etwas ist aufgetaucht«, hatte Hansson in Druckbuchstaben mit seiner gespreizten Schrift notiert. Wallander schüttelte den Kopf über Hanssons Unfähigkeit, sich präziser auszudrücken. »Etwas« tauchte immer auf. Die Frage war nur, was.
Der Kaffeeautomat war repariert worden. Nyberg saß an einem Tisch und aß Dickmilch. Wallander setzte sich ihm gegenüber.
»Wenn du mich fragst, was meine Schwindelanfälle machen, gehe ich«, sagte Nyberg.
»Dann laß ich es bleiben.«
»Mir geht es gut«, sagte er. »Aber ich sehne mich nach meiner Pensionierung. Auch wenn die Pension niedrig ausfällt.«
»Was wirst du dann tun?«
»Rya-Teppiche knüpfen. Lesen. Fjellwanderungen machen.«
Wallander wußte, daß nichts davon wahr war. Nyberg war zwar ausgelaugt und müde, daran zweifelte er nicht; aber gleichzeitig fürchtete er seine Pensionierung mehr als irgend etwas anderes.
»Hat die Pathologie etwas über Landahl herausgefunden?«
»Er starb etwa drei Stunden, bevor die Fähre am Kai anlegte. Was wohl bedeutet, daß derjenige, der ihn getötet hat, noch an Bord war. Wenn er nicht ins Wasser gesprungen ist.«
»Es war natürlich ein Fehler von mir«, räumte Wallander ein. »Wir hätten alle Passagiere kontrollieren sollen.«
»Wir hätten einen anderen Beruf ergreifen sollen«, sagte Nyberg. »Ich liege manchmal nachts wach und versuche zu zählen, wie oft ich Leute, die sich aufgehängt hatten, heruntergeholt habe. Nur das. Nicht die, die sich erschossen oder ertränkt haben, von Hausdächern gesprungen sind, sich in die Luft gesprengt oder Gift genommen haben. Nein, nur die, die sich aufgehängt haben. Mit Seilen, Wäscheleinen oder Stahldraht, ja, einmal sogar mit Stacheldraht. Ich erinnere mich nicht, wie viele es sind. Ich weiß genau, daß ich viele vergesse. Und dann denke ich, daß es Wahnsinn ist. Warum soll ich daliegen und versuchen, mich an all das Elend zu erinnern, in dem ich herumzustiefeln gezwungen war?«
»So etwas ist nie gut«, sagte Wallander. »Es besteht die Gefahr, daß man abstumpft.«
|442| Nyberg legte den Löffel hin und sah Wallander an. »Willst du behaupten, daß du es noch nicht bist? Abgestumpft?«
»Ich hoffe, daß ich es nicht bin.«
Nyberg nickte. Aber er sagte nichts. Wallander beschloß, ihn in Ruhe zu lassen. Außerdem brauchte er Nybergs Tun und Lassen nie zu lenken. Nyberg war gründlich und organisierte seine Arbeit gut. Er wußte immer, was eilig war und was warten konnte.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Nyberg plötzlich. »Über dies und jenes.«
Wallander wußte aus Erfahrung, daß Nyberg zuweilen unerwarteten Scharfsinn unter Beweis stellte, auch bei Dingen, die nicht unmittelbar in seinen Aufgabenbereich fielen. Bei mehr als einer Gelegenheit hatten Nybergs Überlegungen eine ganze Ermittlung in die richtige Richtung gelenkt.
»Und worüber hast du nachgedacht?«
»Über dieses Relais, das auf der Bahre lag. Die Tasche, die an dem Zaun weggeworfen wurde. Den Körper, der zum Geldautomaten zurückgebracht wurde. Ohne die beiden Finger. Wir suchen nach einer Erklärung dafür. Wir
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