Wallander 10 - Wallanders erster Fall
hinauszufahren, in dem Matilda Lamberg lebte. Es graute ihn schon vor dem, was ihm begegnen würde. Krankheit, Leiden und lebenslange Behinderung waren etwas, womit Wallander noch nie besonders gut hatte umgehen können. Aber er wollte mehr über die unbekannte Frau in Erfahrung bringen.
Er verließ Ystad und fuhr über Svartevägen nach Rydsgård. Das |249| Meer lockte zu seiner Linken. Er kurbelte das Fenster herunter und fuhr langsamer.
Plötzlich dachte er an Linda, seine achtzehnjährige Tochter. Zur Zeit hielt sie sich in Stockholm auf. Sie schwankte zwischen verschiedenen Vorstellungen, was sie einmal werden wollte. Möbelpolsterin oder Krankengymnastin, manchmal sogar Schauspielerin. Sie teilte sich mit einer Freundin eine Wohnung auf Kungsholmen zur Untermiete. Wovon sie eigentlich lebte, war Wallander nicht ganz klar. Aber er wußte, daß sie dann und wann in Restaurants kellnerte. Wenn sie sich nicht in Stockholm aufhielt, wohnte sie bei Mona in Malmö, und dann kam sie oft, aber unregelmäßig, nach Ystad und besuchte ihn.
Er machte sich Sorgen um sie. Doch gleichzeitig sah er so viele Charaktereigenschaften bei ihr, die er von sich selbst nicht kannte. Im Innersten zweifelte er jedoch nicht daran, daß sie es schaffen würde, ihren Platz im Leben zu finden. Aber die Sorge war trotzdem da. Gegen die war er machtlos.
Wallander hielt in Rydsgård und aß ein spätes Mittagessen im Gasthof. Schweinekoteletts. Am Tisch hinter ihm führten einige Bauern eine lautstarke Diskussion über Vor- und Nachteile eines neuen Typs von Miststreuer. Wallander versuchte sich ganz aufs Essen zu konzentrieren. Das hatte Rydberg ihn gelehrt. Wenn er aß, sollte er nur an das denken, was vor ihm auf dem Teller lag. Hinterher würde er sich vorkommen, als sei sein Kopf gelüftet worden. Wie ein Haus, dessen Fenster man geöffnet hatte, nachdem es lange Zeit leergestanden hatte.
Das Pflegeheim lag in der Nähe von Rynge. Wallander folgte Svedbergs Wegbeschreibung und hatte keine Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden. Er bog auf den Vorplatz ein und stieg aus. Die Anlage bestand aus einer Mischung alter und neuer Häuser. Er ging durch den Haupteingang hinein. Von irgendwoher hörte er ein gellendes Lachen. Eine Frau war dabei, Blumen zu gießen. Wallander ging zu ihr und bat sie, mit der Leiterin sprechen zu dürfen.
»Das bin ich«, sagte die Frau und lächelte. »Ich heiße Margareta Johansson. Und ich weiß schon, wer Sie sind. So oft, wie man Sie in den Zeitungen sieht!«
|250| Sie goß weiter ihre Blumen. Wallander versuchte, ihren letzten Kommentar zu ignorieren.
»Manchmal muß es schrecklich sein, Polizist zu sein«, sagte sie plötzlich.
»Das kann ich nur bestätigen«, antwortete Wallander. »Aber ich würde anderseits nicht in diesem Land leben wollen, wenn es keine Polizei gäbe.«
»Das ist sicher richtig«, stimmte sie zu und stellte die Gießkanne ab. »Ich nehme an, Sie sind wegen Matilda Lamberg gekommen?«
»Eigentlich nicht direkt ihretwegen. Eher wegen der Frau, die sie manchmal besucht und die nicht ihre Mutter ist.«
Margareta Johansson sah ihn an. Ein Anflug von Beunruhigung huschte über ihr Gesicht.
»Hat sie etwas mit dem Mord an Matildas Vater zu tun?«
»Das ist kaum wahrscheinlich, aber ich möchte doch wissen, wer sie ist.«
Margareta Johansson zeigte auf eine halboffene Tür, die zu einem Büroraum führte. »Wir können uns dort drinnen hinsetzen.«
Sie bot Wallander Kaffee an. Er lehnte ab.
»Matilda bekommt nicht viel Besuch«, sagte sie. »Als ich vor vierzehn Jahren hierherkam, war sie schon seit sechs Jahren da. Nur ihre Mutter besucht sie. Und dann und wann, bei seltenen Gelegenheiten, eine Verwandte. Matilda merkt kaum, wenn sie Besuch bekommt. Sie ist blind und hört schlecht. Und sie reagiert kaum auf das, was um sie her vorgeht. Aber wir wollen trotzdem, daß diejenigen, die viele Jahre bei uns verbringen, vielleicht sogar ihr ganzes Leben, Kontakt zur Außenwelt behalten. Vielleicht geht es um ein Gefühl, daß sie trotz allem dazugehören, zur großen Gemeinschaft.«
»Wann begann diese Frau zu Besuch zu kommen?«
Margareta Johansson dachte nach. »Vor sieben oder acht Jahren.«
»Wie oft kommt sie hierher?«
»Ganz unregelmäßig. Manchmal vergeht ein halbes Jahr, bis sie wiederkommt.«
»Und sie nennt nie ihren Namen?«
|251| »Nie. Sie sagt nur, daß sie komme, um Matilda zu besuchen.«
»Ich nehme an, Sie haben es auch Elisabeth Lamberg
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