Wallander 10 - Wallanders erster Fall
dreizehnjährige Mädchen gefunden, die schon vor Wochen von zu Hause verschwunden waren. Eins von ihnen hat so ekelhaft gerochen, daß man sich die Nase zuhalten mußte. Das andere hat Persson ins Bein gebissen, als wir sie hochheben wollten. Was geht hier in diesem Land eigentlich vor? Und warum warst du nicht dabei?«
»Ich bin zu Hemberg gerufen worden«, antwortete Wallander. Auf die andere Frage, was eigentlich in Schweden los war, wußte er keine Antwort.
Er nahm seine Jacke und ging.
In der Anmeldung wurde er von einem der Mädchen angehalten, die in der Telefonvermittlung saßen. »Hier ist eine Nachricht für dich«, sagte sie und reichte ihm einen Zettel durch die Glasscheibe. Es stand eine Telefonnummer darauf.
»Und was ist das?« fragte er.
»Es hat jemand angerufen und gesagt, er sei ein entfernter Verwandter von dir. Er sei nicht einmal sicher, daß du dich an ihn erinnern würdest.«
»Hat er nicht gesagt, wie er heißt?«
»Nein, aber er schien ziemlich alt zu sein.«
Wallander betrachtete die Telefonnummer. Sie hatte auch eine |93| Vorwahl: 0411. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Mein Vater ruft an und erklärt, er sei ein entfernter Verwandter, an den ich mich nicht einmal richtig erinnern könne.
»Wo liegt Löderup?« fragte er.
»Ich glaube, das ist Polizeibezirk Ystad.«
»Ich meine nicht den Polizeibezirk. Ich meine, in welchem Vorwahlbereich?«
»Es gehört zu Ystad.«
Wallander steckte den Zettel in die Tasche und ging. Wenn er einen Wagen gehabt hätte, wäre er schnurstracks nach Löderup hinausgefahren und hätte seinen Vater gefragt, was er mit diesem Anruf eigentlich bezweckte. Wenn er eine Antwort bekommen hätte, hätte er klipp und klar gesagt, daß es von jetzt an keinen Kontakt mehr zwischen ihnen geben würde. Keine Pokerabende, keine Telefongespräche. Wallander würde versprechen, sich bei der Beerdigung einzufinden, von der er hoffte, daß sie in nicht allzu ferner Zukunft stattfinden würde. Aber das wäre auch alles. Wallander ging die Fiskehamnsgata entlang. Dann bog er in die Slottsgata ein und ging weiter in den Kungspark. Ich habe zwei Probleme, dachte er. Das größte und wichtigste ist Mona. Das zweite ist mein Vater. Beide Probleme muß ich so schnell wie möglich lösen.
Er setzte sich auf eine Bank und betrachtete ein paar Spatzen, die in einer Wasserpfütze badeten. Ein Betrunkener lag schlafend zwischen den Büschen. Eigentlich sollte ich ihn auf die Beine stellen, dachte Wallander. Ihn hier auf eine Bank setzen oder mich sogar darum kümmern, daß er in Gewahrsam genommen wird, um seinen Rausch auszuschlafen. Aber im Moment ist es mir völlig egal. Soll er doch da liegenbleiben.
Er stand auf und ging weiter. Verließ den Kungspark und kam auf die Regementsgata. Er hatte immer noch keinen Hunger. Dennoch blieb er an einem Wurststand am Gustav Adolfs Torg stehen und kaufte sich eine Bratwurst. Dann ging er zurück zum Polizeipräsidium.
Inzwischen war es halb zwei. Hemberg war beschäftigt. Was er selbst tun sollte, wußte er nicht. Eigentlich müßte er mit Lohman darüber sprechen, was er am Nachmittag tun sollte. Aber er ließ es |94| bleiben. Statt dessen zog er die Listen, die Helena ihm gegeben hatte, noch einmal zu sich heran. Ging erneut die Namen durch. Versuchte, ihre Gesichter zu sehen, sich ihre Leben vorzustellen. Matrosen und Maschinisten. Am Rand standen ihre Geburtsdaten. Wallander legte die Papiere wieder fort. Vom Korridor her hörte er etwas, was wie Hohngelächter klang.
Wallander versuchte, an Hålén zu denken. Seinen Nachbarn. Der seinen Tippschein abgegeben, sich ein Extraschloß angeschafft und sich dann erschossen hatte. Alles sprach dafür, daß Hembergs Theorie sich als haltbar erweisen würde. Hålén hatte aus irgendeinem Grund Alexandra Batista getötet und sich anschließend das Leben genommen.
Hier war plötzlich Schluß. Hembergs Theorie war vollkommen logisch und nachvollziehbar. Dennoch kam es Wallander so vor, als ob sie hohl wäre. Die Schale stimmte. Aber der Inhalt? Noch immer blieb vieles unklar. Vor allem paßte es sehr schlecht zu dem Eindruck, den Wallander von seinem Nachbarn gehabt hatte. Einen leidenschaftlichen oder gewalttätigen Zug hatte Wallander an ihm nie festgestellt. Zwar konnten die zurückhaltendsten Menschen in Chaos und Gewalttätigkeit explodieren, wenn sie unter Druck gerieten, aber war es wirklich denkbar, daß Hålén die Frau, mit der er vermutlich ein Verhältnis hatte,
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