Wallander 10 - Wallanders erster Fall
Weihnachten. Irgendwo saß ihre Familie und wartete.
Wallander fühlte, wie Empörung in ihm aufwallte. Sie war so stark, daß sie seine Angst verdrängte. Wie konnte man eine alte Frau so brutal töten? Was war hier in Schweden eigentlich los?
Sie sprachen oft darüber im Polizeipräsidium, beim Essen oder wenn sie Kaffee tranken. Oder wenn sie eine Ermittlung kommentierten, an der sie arbeiteten.
Was ging eigentlich um sie her vor? Ein unterirdischer Riß war plötzlich in der schwedischen Gesellschaft aufgebrochen. Empfindliche Seismographen registrierten ihn. Aber woher kam er? Daß die Kriminalität sich ständig veränderte, war an sich nichts Bemerkenswertes. Wie einer von Wallanders Kollegen es einmal ausgedrückt hatte: Früher hat man Trichtergrammophone gestohlen, aber keine Autoradios. Aus dem einfachen Grunde, weil es sie damals noch nicht gab.
Aber der Riß, der sich aufgetan hatte, war von anderer Art. Er hatte mit der zunehmenden Gewalt zu tun. Einer Brutalität, die nicht danach fragte, ob sie notwendig war oder nicht.
Und jetzt befand sich Wallander selbst mitten in diesem Riß. An Heiligabend. Vor ihm stand ein vermummter Mann mit einer Pistole im Gürtel. Und ein paar Meter hinter ihm lag eine tote Frau.
Es gab keinerlei Logik in dem Ganzen. Wenn man lange und hartnäckig genug suchte, fand sich meistens ein nachvollziehbares Moment. Aber hier nicht. Man erschlug nicht eine Frau mit einem |139| Eisenrohr in einem abseits gelegenen Geschäft, außer es war absolut notwendig. Oder sie leistete heftigen Widerstand.
Doch vor allem blieb man nicht anschließend mit einer Maske über dem Kopf da und wartete. Worauf auch immer.
Das Telefon klingelte wieder. Wallander war jetzt davon überzeugt, daß jemand Elma Hagman vermißte. Jemand, der unruhig zu werden begann.
Er versuchte sich vorzustellen, was in dem Mann mit der Maske vorging.
Aber der Kerl bewegte sich nicht und schwieg weiter. Seine Arme hingen herunter.
Das Klingeln hörte auf. Eine der Neonröhren begann zu flackern. Wallander merkte plötzlich, daß er dasaß und an Linda dachte. Er sah sich selbst in der Tür der Wohnung in der Mariagata stehen und sich darüber freuen, wie sie ihm entgegenlief.
Was für eine wahnsinnige Situation, dachte er. Wieso sitze ich hier auf einem Hocker mit einer dicken Beule im Nacken? Mir ist kotzübel, und ich habe Angst. Die einzigen Kopfbedeckungen, die man zu dieser Jahreszeit tragen sollte, sind Weihnachtsmannmützen. Sonst keine.
Er drehte wieder den Kopf. Es war inzwischen neunzehn Minuten vor sieben. Jetzt rief Mona bestimmt an und wollte wissen, wo er bliebe. Und sie würde nicht klein beigeben. Sie war hartnäckig. Schließlich würde das Gespräch bei Hemberg landen, der sofort Alarm schlagen würde. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde er die Sache selbst in die Hand nehmen. Wenn man befürchtete, daß einem Polizisten etwas zugestoßen war, scheute man keine Mittel. Dann zögerten nicht einmal die höheren Vorgesetzten, sich unmittelbar ins Geschehen zu stürzen.
Wallander fühlte seine Übelkeit zurückkehren. Außerdem mußte er bald aufs Klo.
Gleichzeitig war ihm bewußt, daß er nicht mehr lange untätig bleiben konnte. Es gab nur eine Möglichkeit. Das wußte er. Er mußte mit dem Mann sprechen, der sein Gesicht hinter der schwarzen Maske verbarg.
»Ich bin in Zivil«, begann er, »aber ich bin Polizist. Das beste ist, Sie geben auf. Legen Sie die Waffe weg. In ein paar Minuten wird |140| es hier draußen von Streifenwagen wimmeln. Sie sollten wirklich aufgeben und es nicht noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist.«
Wallander hatte langsam und deutlich gesprochen. Er hatte sich dazu gezwungen, seine Stimme energisch klingen zu lassen.
Der Mann reagierte nicht.
»Legen Sie die Pistole weg«, sagte Wallander. »Bleiben Sie, oder hauen Sie ab. Aber lassen Sie die Pistole da.«
Immer noch keine Reaktion.
Wallander begann sich zu fragen, ob der Mann stumm war. Oder war er so benebelt, daß er nicht begriff, was Wallander sagte? »In meiner Innentasche steckt mein Ausweis«, fuhr Wallander fort. »Da können Sie sehen, daß ich Polizist bin. Ich bin unbewaffnet. Aber das habe ich ja schon gesagt.«
Da kam endlich eine Reaktion. Aus dem Nichts. Ein Geräusch, das wie ein Klicken klang. Wallander dachte, daß der Mann mit den Lippen geschnalzt hatte. Oder mit der Zunge gegen den Gaumen geklickt hatte.
Das war alles. Er stand immer noch reglos da.
Es verging
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