Wallander 10 - Wallanders erster Fall
vielleicht eine Minute.
Dann hob der Mann plötzlich die eine Hand. Griff von oben an seine Mütze und zog sie sich vom Kopf.
Wallander starrte das Gesicht des Mannes an. Er blickte direkt in ein paar dunkle und müde Augen.
Hinterher sollte Wallander viel darüber nachgrübeln, was er eigentlich erwartet hatte. Wie hatte er sich das Gesicht hinter der Maske vorgestellt? Absolut sicher war er sich nur, daß er sich nie das Gesicht vorgestellt hatte, das er schließlich zu sehen bekam.
Es war ein Schwarzer, der vor ihm stand. Er war nicht braun, nicht kupferfarben, kein Mestize. Sondern wirklich schwarz.
Und er war jung. Kaum älter als zwanzig Jahre.
Mehrere Gedanken schossen Wallander gleichzeitig durch den Kopf. Der Mann hatte vermutlich nicht verstanden, was er auf schwedisch gesagt hatte. Wallander wiederholte, was er gerade gesagt hatte, in seinem dürftigen Englisch, und jetzt konnte er sehen, daß der Mann verstand. Wallander sprach sehr langsam. Und er sagte es, wie es war. Daß er Polizist war. Daß es bald um den Laden |141| von Polizeiwagen wimmeln würde. Daß es das beste wäre, wenn er aufgäbe.
Der Mann schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wallander hatte den Eindruck, daß er unendlich müde war. Jetzt, wo er die Maske abgezogen hatte, konnte man es sehen.
Ich darf nicht vergessen, daß er brutal eine alte Frau getötet hat, sagte sich Wallander. Er hat mich niedergeschlagen und gefesselt. Er hat eine Pistole.
Was hatte er eigentlich darüber gelernt, wie man sich in einer Situation wie der gegenwärtigen verhalten mußte? Ruhe bewahren, keine plötzlichen Bewegungen oder provozierenden Bemerkungen machen. Ruhig sprechen. Einen stetigen Strom von Worten. Geduldig und freundlich sein. Versuchen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Nicht die Beherrschung verlieren. Vor allen Dingen das nicht. Die Beherrschung zu verlieren hieße die Kontrolle zu verlieren.
Wallander dachte, daß es ein guter Anfang sein könnte, von sich selbst zu sprechen. Er erzählte also, wie er hieß. Daß er auf dem Weg nach Hause zu seiner Frau und seiner Tochter war, um Weihnachten zu feiern. Er merkte, daß der Mann jetzt zuhörte.
Wallander fragte ihn, ob er verstehe.
Der Mann nickte, aber er sagte immer noch nichts.
Wallander schaute auf die Uhr. Jetzt hatte Mona ganz sicher angerufen. Hemberg war vielleicht schon auf dem Weg.
Er entschloß sich, es genau so zu sagen. Der Mann hörte zu. Wallander hatte das Gefühl, daß er schon damit rechnete, die sich nähernden Sirenen zu hören.
Wallander verstummte. Er versuchte zu lächeln.
»Wie heißen Sie?« fragte er.
»Oliver.«
Die Stimme war unsicher. Ergeben, dachte Wallander. Er wartet nicht darauf, daß jemand kommt. Er wartet darauf, daß jemand ihm erklärt, was er getan hat.
»Wohnen Sie hier in Schweden?«
Oliver nickte.
»Sind Sie schwedischer Staatsangehöriger?«
»Nein.«
|142| »Und woher kommen Sie?«
Er antwortete nicht. Wallander wartete. Er war sicher, daß die Antwort kommen würde. Er wollte möglichst viel erfahren, bevor Hemberg und die Streifenwagen eintrafen. Aber er durfte es nicht übereilen. Der Schritt dahin, daß dieser Schwarze die Pistole aus dem Gürtel zog und ihn erschoß, brauchte nicht besonders groß zu sein.
Wallander merkte, daß der Schmerz im Hinterkopf sich verstärkt hatte. Aber er versuchte ihn zu ignorieren.
»Alle kommen von irgendwoher«, sagte er, »und Afrika ist groß. Ich habe etwas über Afrika gelesen, als ich in die Schule ging. Geographie war mein bestes Fach. Ich habe von den Wüsten und den Flüssen gelesen. Und den Trommeln. Wie sie in der Nacht dröhnen.«
Oliver hörte aufmerksam zu. Wallander bekam das Gefühl, daß er jetzt weniger auf der Hut war.
»Gambia«, sagte Wallander. »Dahin fahren viele Schweden in Urlaub. Auch einige meiner Kollegen. Kommen Sie daher?«
»Ich komme aus Südafrika.«
Die Antwort kam schnell und bestimmt. Fast hart.
Wallander war schlecht informiert darüber, was eigentlich in Südafrika vor sich ging. Er wußte nicht viel mehr, als daß das Apartheidsystem und seine Rassengesetze härter denn je angewendet wurden. Aber auch, daß der Widerstand gewachsen war. Er hatte in den Zeitungen von Bombenexplosionen in Johannesburg und Kapstadt gelesen.
Er wußte, daß eine Reihe von Südafrikanern in Schweden eine Zuflucht gefunden hatten. Vor allem solche, die sich offen am schwarzen Widerstand beteiligt hatten und die zu Hause riskierten, zum Tode verurteilt und
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