Wallander 10 - Wallanders erster Fall
geleistet haben. Er macht |134| auch nicht den Eindruck, nervös zu sein oder unter Drogen zu stehen.
Der Überfall ist geschehen, und trotzdem bleibt er da. Er flieht nicht. Bleibt da. Wartet.
Wallander begriff, daß irgend etwas nicht stimmen konnte. Es war kein gewöhnlicher Raubüberfall, in den er geraten war. Warum floh der Mann nicht? Stand er unter Schock? Er hatte wahrscheinlich nicht damit gerechnet, einen Menschen zu töten. Oder daß jemand so kurz vor Ladenschluß an Heiligabend noch hereinkam. Wallander wußte, daß es wichtig war, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Aber es paßte alles nicht zusammen.
Wallander sagte sich, daß ein weiterer Umstand von Bedeutung war.
Der maskierte Mann wußte nicht, daß er Polizist war.
Er hatte keine Veranlassung gehabt, etwas anderes zu glauben, als daß ein später Kunde in den Laden gekommen war. Ob das nun von Vorteil oder Nachteil war, konnte Wallander nicht beurteilen.
Er versuchte das linke Bein zu strecken. Den Durchgang zur Theke behielt er, so gut es ging, im Auge. Der vermummte Mann war dort irgendwo im Hintergrund. Und er bewegte sich lautlos. Das Abschleppseil begann sich zu lockern. Wallanders Hemd war naßgeschwitzt. Mit einer gewaltigen Anstrengung gelang es ihm, das Bein freizubekommen. Er blieb reglos sitzen. Dann wandte er sich vorsichtig um. Das Seil war um die Stütze eines Wandregals gezogen. Wallander wurde klar, daß er sich nicht befreien könnte, ohne gleichzeitig das Regal umzureißen. Dagegen konnte er jetzt das freie Bein benutzen, um das andere Bein Stück für Stück aus den Fesseln zu befreien. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es waren sieben Minuten vergangen, seit er zuletzt auf die Uhr geschaut hatte. Noch hatte Mona nicht in Malmö angerufen. Es war fraglich, ob sie überhaupt schon angefangen hatte, sich Sorgen zu machen. Wallander zerrte weiter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn der Mann mit der Maske zu ihm hinsah, würde er sofort entdecken, daß Wallander im Begriff war, sich zu befreien, und Wallander hätte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Er arbeitete so schnell und lautlos, wie er konnte. Beide Beine waren jetzt frei. Kurz darauf auch der linke Arm. Jetzt blieb nur |135| noch der rechte. Dann konnte er aufstehen. Was er dann tun würde, wußte er nicht. Eine Waffe hatte er nicht bei sich. Er müßte sich mit bloßen Händen verteidigen, falls er angegriffen würde. Aber er hatte das Gefühl bekommen, daß der Mann mit der Maske nicht besonders groß oder kräftig war. Außerdem wäre er nicht vorbereitet. Der Überraschungseffekt war Wallanders Waffe. Sonst nichts. Und er würde den Laden so schnell wie möglich verlassen. Er würde den Kampf nicht unnötig in die Länge ziehen. Allein konnte er nichts machen. Er mußte unbedingt Kontakt mit Hemberg im Polizeipräsidium aufnehmen.
Seine rechte Hand war jetzt frei. Das Abschleppseil lag neben ihm. Wallander merkte, daß seine Gelenke schon steif geworden waren. Er richtete sich vorsichtig auf die Knie auf und schaute um die Theke herum.
Der Mann mit der Maske kehrte ihm den Rücken zu.
Wallander konnte jetzt zum ersten Mal die ganze Gestalt des Mannes sehen. Sein Eindruck stimmte. Der Mann war wirklich sehr mager. Er trug dunkle Jeans und weiße Turnschuhe.
Er stand vollkommen unbeweglich da. Der Abstand betrug höchstens drei Meter. Wallander könnte sich auf ihn werfen und ihm einen Schlag ins Genick versetzen. Das müßte reichen, um anschließend aus dem Laden herauszukommen.
Dennoch zögerte er.
Im gleichen Augenblick entdeckte er das Eisenrohr. Es lag auf einem Regal neben dem Mann.
Wallander zögerte nicht mehr. Ohne Waffe könnte der Mann mit der Maske sich nicht verteidigen. Langsam begann er sich aufzurichten. Der Mann reagierte nicht. Wallander stand jetzt aufrecht.
Genau in dem Moment fuhr der Mann herum. Wallander warf sich auf ihn. Der Mann trat einen Schritt zur Seite. Wallander stieß gegen ein Regal, das hauptsächlich mit Knäckebrot und Zwieback gefüllt war. Aber er stürzte nicht, es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten. Er drehte sich um und wollte den Mann packen. Aber mitten in der Bewegung erstarrte er.
Der maskierte Mann hatte eine Pistole in der Hand. Er hielt sie ruhig auf Wallanders Brust gerichtet.
|136| Dann hob er langsam den Arm, bis die Waffe genau auf Wallanders Stirn zeigte.
Einen schwindelerregenden Moment lang dachte Wallander, er würde sterben. Einmal hatte er einen Messerstich überlebt. Aber
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