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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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stammt aus Herakles, und es handelt sich um die Stelle im Stück, wo der Held von seinem Freund Theseus getröstet wird, da er gerade seine gesamte Familie ausgelöscht hat, weil ihn die Göttin Hera in den Wahnsinn getrieben hat, um auf diese Weise Zeus eins auszuwischen. Theseus sagt dort, daß Herakles sich überhaupt nicht schuldig fühlen dürfe, da die alleinige Schuld bei den Göttern liege, die ihn zu seiner Tat gezwungen hätten. Wie er weiter ausführt, hätten die Götter keinerlei Auffassung von Moral, sie würden sich gegenseitig nicht nur betrügen und berauben, sondern auch in Ketten legen. Herakles erzürnt sich darüber und widerspricht seinem Freund heftig. Nein, sagt er, ich glaube einfach nicht, daß sich die Götter gegenseitig in Ketten legen oder überhaupt zu etwas Bösem fähig sind; sie sind lauter und heilig, und alles, was sie tun, ist nur zu unsrem Besten.
    Was immer also Dionysos mit mir vorhatte, es war nur zu meinem Besten. Das nahm mir die gesamte Last von den Schultern – und sind die Götter letztendlich nicht dazu da? Es half mir auch, meine Schuldgefühle zu vergessen, Phaidra und meinen Sohn einem jämmerlichen Dasein auszuliefern, da die Pflicht, die ein Mensch gegenüber den Göttern hat, sehr viel schwerwiegender als irgendeine irdische Pflicht ist. Außerdem hätte Dionysos von nun an die Verpflichtung, sich um Phaidra und Eutychides zu kümmern, denn so funktioniert nun einmal das System. Ich überdachte diese Lösung mehrere Male und konnte keinerlei Fehler entdecken; allerdings bedauerte ich es zutiefst, daß ich mein Talent, die Vorgehensweise der Götter zu verstehen, zu spät im Leben entdeckt hatte, um mir noch einen Namen als tragischer Dichter machen zu können.
    Während ich dort saß und, überwältigt von meiner eigenen Klugheit, ins Feuer starrte, öffnete Phaidra die Tür des Innenraums.
    »Geht’s dir mittlerweile besser?« erkundigte sie sich vorsichtig.
    »Ja.«
    »Demnach hast du deine Ansicht geändert, richtig?«
    »Nein.«
    »Ich verstehe.« Phaidra seufzte laut. »Wegen Dionysos?«
    »Ja.«
    »Du mußt ganz schön verrückt sein. Ich meine, du besitzt ganz offenbar wirklich keinen Verstand mehr.«
    »Wenn du meinst.«
    Sie setzte sich neben mich, und eine Zeitlang schwiegen wir beide.
    »Also, was ist in Sizilien wirklich passiert?« fragte sie unvermittelt.
    Ich stutzte. »Hältst du das für den geeigneten Zeitpunkt, um Erinnerungen auszutauschen? Sollten wir uns nicht lieber darüber unterhalten, wie wir so viel Geld wie möglich aus dem Land schaffen können, bevor man uns den Gerichtsvollzieher ins Haus schickt?«
    »Das kann warten. Was ist in Sizilien passiert?«
    Also erzählte ich ihr alles. Es dauerte sehr lange – nun, Sie werden verstehen, warum, wenn Sie bis zu dieser Stelle wirklich alles gelesen und nicht nur immer weitergeblättert haben, um die wörtlichen Reden zu finden. Mir fiel es jetzt leicht, ihr alles zu erzählen, da ich mich nun zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. Phaidra hörte aufmerksam zu, und sie unterbrach mich nur, wenn sie meinen Ausführungen nicht mehr folgen konnte. Hin und wieder hielt ich aus dem einen oder anderen Grund inne, und dann gab sie mir jedesmal einen Knuff und bat mich weiterzuerzählen. In diesen Momenten wurde mir klar, daß es richtig gewesen war, mich für Phaidra entschieden zu haben, obwohl sich dieser Entschluß letztendlich nicht mehr als besonders wichtig herauszustellen schien. Als ich ihr von dem Garten hinter der Mauer und Dionysos erzählte, da konnte sie mich vielleicht zum erstenmal verstehen; ich weiß es nicht. Am Ende meiner Schilderung saß sie eine ganze Weile stumm da und nestelte am Saum ihres Gewands.
    »Und?« fragte ich schließlich.
    »Und was?«
    »Nun, hat sich dadurch, daß du jetzt alles gehört hast, deine Meinung geändert?«
    Sie dachte kurz darüber nach und antwortete dann: »Das hängt ganz davon ab, was du meinst.«
    »Eine merkwürdige Antwort.«
    »Ja, sie hat sich geändert. Nein, sie hat sich dort nicht geändert, wo es vonnöten wäre. Ich verstehe noch immer nicht, warum du Aristophanes nicht denunzieren kannst.«
    »Hast du mir denn eben nicht zugehört? Möchtest du, daß ich dir alles noch mal erzähle?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, möglicherweise hast du den Gott wirklich gesehen, oder vielleicht hast du es dir auch nur eingebildet; es kommt dasselbe dabei heraus. Womöglich hast du dich sogar selbst dazu gezwungen, Dionysos zu

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