Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
Unterschiede. Die können wir als erwiesen erachten.«
    Jetzt war ich an der Reihe, die Stirn zu runzeln. »Vermutlich der, daß Frauen den ganzen Tag im Haus bleiben, während die Männer zur Arbeit auf die Felder gehen«, antwortete ich.
    »Ganz genau«, bestätigte Sokrates, wobei er das Knie losließ und sich aufrecht hinsetzte. »Gut. Hast du schon mal ein Kaninchen gesehen?«
    »Oft, Sokrates, sehr oft sogar.«
    »Und sind Kaninchen wegen ihres grauen Fells nicht schwer zu erkennen?«
    »Na ja, wenn man nicht weiß, wonach man Ausschau hält, sind sie nicht so leicht zu entdecken.«
    »Und als du zum erstenmal ein Kaninchen gesehen hast«, fuhr Sokrates fort, »hast du es da selbst erkannt oder hat dich jemand darauf hingewiesen?«
    »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich und dachte angestrengt nach. »Ich glaube, irgend jemand hat gesagt: ›Guck mal, dahinten ist ein Kaninchen!‹, und ich habe gefragt: ›Wo?‹, und er hat es mir gezeigt, und da habe ich es gesehen.«
    »Also hat jemand anders das Kaninchen zuerst entdeckt und dir gezeigt, wonach du dich umsehen mußt?«
    »Soweit ich mich erinnern kann, ja.«
    »Und du hast in die betreffende Richtung geblickt und dasselbe gesehen wie dieser Jemand«, fuhr Sokrates fort. »Aber weil du nicht gewußt hast, wie man ein Kaninchen vor einem grauen Felshintergrund ausmachen soll, hast du es nicht als Kaninchen erkannt?«
    »Das entspricht ziemlich genau dem Geschehen, soweit ich mich entsinne«, antwortete ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist schon lange her, weißt du.«
    »Ja, natürlich. Also, angenommen, du hättest nie einen Freund gehabt, der wußte, wie ein Kaninchen aussieht, hältst du es dann für möglich, daß du mit auf Felsnasen gehefteten Augen durchs Leben gegangen wärst, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es um dich herum von Kaninchen nur so wimmelt?«
    »Absolut möglich«, erwiderte ich und kratzte mich am Ohr.
    »Oder nimm diese Heilpflanze mit dem Namen Ehrenpreis«, fuhr Sokrates fort. »Natürlich ist dir bekannt, wie ein Ehrenpreis aussieht.«
    »Das möchte ich doch meinen, Sokrates«, entgegnete ich. »Schließlich bin ich in den Bergen aufgewachsen. Die Blume hat einen langen dünnen Stiel und blaue Blüten.«
    »Aber wenn dir nie jemand erzählt hätte, um welche Blume es sich dabei handelt«, sagte Sokrates und blickte mir direkt in die Augen, »wenn du wie das Kind in der Erzählung gleich nach der Geburt am Berghang ausgesetzt und von Wölfen aufgezogen worden wärst, hättest du nie gewußt, daß diese blaue Blume Ehrenpreis genannt wird, oder?«
    »Wenn ich es mir recht überlege, hätte ich es vermutlich nicht gewußt.«
    »Nehmen wir nun an, du befindest dich auf einer Wanderung durch die Berge, blickst nach oben in den Himmel und siehst dunkle Wolken. Womit würdest du rechnen?«
    Die Antwort darauf wußte ich. »Mit Regen«, erwiderte ich.
    »Und warum genau würdest du mit Regen rechnen? Weil dir jemand erzählt hat, daß dunkle Wolken Regen bringen?«
    »Ja, genau.«
    »Vielleicht hast du es auch selbst herausgefunden, durch Erfahrung«, sagte Sokrates und stützte das Kinn nachdenklich auf dem Handrücken ab. »Du hast festgestellt, daß jedem Regenguß, an den du dich erinnern kannst, dunkle Wolken vorausgegangen sind, und da dein Verstand rational denkt, hat er die Erklärung verworfen, es handle sich um einen bloßen Zufall.«
    Ich nickte vielsagend und pflichtete ihm bei: »Genau das täte ein rationaler Verstand.«
    »Also gut«, fuhr Sokrates lebhaft fort. »Nachdem wir jetzt diese vorläufigen Behauptungen bewiesen haben, können wir auf deine ursprüngliche Frage zurückkommen: die Frage nach Frauen und Gerichten. Nehmen wir einmal einen Prozeß an, in dem es für die Beweisaufnahme entscheidend wäre, ob sich an einer bestimmten Stelle ein Kaninchen oder eine Gruppe Ehrenpreis befunden hat. Wäre ein Mensch, der kein Kaninchen erkennt, wenn er es sieht, oder ein Ehrenpreis nicht von einer Soldanella unterscheiden kann, in der Lage, eine beweiskräftige Aussage zu machen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Genau«, bestätigte Sokrates grinsend. »Dort könnte sehr gut ein Kaninchen oder Ehrenpreis gewesen sein, doch dieser Mensch hätte es direkt angeblickt und nicht wahrgenommen und würde vor den Geschworenen in aller Aufrichtigkeit aussagen, kein Kaninchen beziehungsweise keinen Ehrenpreis gesehen zu haben. Und dann müßten die Geschworenen annehmen, der Angeklagte, der gerade behauptet

Weitere Kostenlose Bücher