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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Fast im selben Augenblick kam der Gerichtsdiener heraus und rief Demeas und mich in den Gerichtssaal. Ich drückte Phaidra rasch einen Kuß auf die Wange, wobei ich ihrem Blick auswich; dann stand ich auf, schüttelte mich wie ein Hund, der zur Essenszeit aufwacht, und ging auf das Portal zu. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe: So also fühlen sich meine Schauspieler, wenn der Ausrufer sie zur ersten Szene auf die Bühne bittet.
    Als ich den Gerichtssaal betrat, nahm ich erst einmal die Geschworenen genauer in Augenschein. Ich hielt nach wenigstens einem bekannten Gesicht Ausschau – von fünfhundertundeins Männern mußte ich doch wenigstens einen kennen. Doch zunächst glichen ihre Gesichter lediglich braunschwarzem Brei, und sie sahen wie eins dieser riesigen sagenumwobenen Ungeheuer aus, auf das Herakles in einem seiner weniger wahrscheinlichen Abenteuer hätte treffen können. Da entdeckte ich einen Mann, den ich kannte; zwar wollte mir sein Name nicht einfallen, aber ich hatte ihn erst kürzlich getroffen, entweder auf dem Marktplatz oder auf dem Land. Er biß gerade einen großen Happen von einem dicken dunklen Kanten Gerstenbrot ab, und in der linken Hand hielt er eine kleine Weinflasche in der Form eines Esels bereit, um den Brei in seinem Mund zu durchtränken und für seine paar verbliebenen Zähne schön weich und geschmeidig zu machen; selten bin ich einem anziehenderen Geschöpf begegnet. Neben ihm saß ein ganz kleiner Mann, mindestens siebzig Jahre alt, mit zerzausten weißen Haarbüscheln auf einem spitz zulaufenden braunen Schädel, der in atemberaubender Geschwindigkeit Selbstgespräche führte. Ihn erkannte ich als einen von Kleons Spürhunden wieder, der aus dem harten Kern der alten Geschworenen der Brüderschaft der drei Obolen stammte. Von denen waren in letzter Zeit viele an Altersschwäche gestorben (oder, wie einige sagten, aus Kummer über den Tod ihres Herrn und Meisters), aber es waren immer noch einige zu sehen, die vor Sonnenaufgang auf den Landstraßen zur Stadt unterwegs waren, weil sie rechtzeitig beim Gerichtsgebäude sein wollten, um ganz vorn in der Schlange der Bewerber um ein Geschworenenamt zu stehen, wenn ihre Stammesphyle an die Reihe kam. Und war das nicht einer der Brüder des kleinen Zeus, der sich da am Fuß der Mauer in einem uralten Umhang zusammenkauerte? Ich hoffte, daß es sich so verhielt, denn bestimmt wäre er auf meiner Seite. Dann erinnerte ich mich, gehört zu haben, daß die Brüder des kleinen Zeus alle tot waren; in ihrem Dorf in den Bergen war die Pest wiederaufgeflammt und hatte bis auf einen alten Mann und einen Säugling die gesamte Bevölkerung ausgelöscht. Zumindest eins beruhigte mich: Die Geschworenen hatten eine auffallende Ähnlichkeit mit den Theaterbesuchern, die ich im Laufe meines Lebens beobachtet hatte – sie schienen dieselbe Erleichterung darüber zu empfinden, daß die Tragödien endlich vorbei waren, und den Beginn der Komödien kaum abwarten zu können.
    Dann wurde die Klageschrift verlesen.
    »Klage des Demeas, Sohn des Polemarchos von Kydathene, gegen Eupolis, Sohn des Euchoros von Pallene, wegen Gotteslästerung. Vorgeschlagene Strafe: Tod. Das Wort hat jetzt Demeas.«
    Die Wasseruhr wurde gefüllt und begann zu laufen. Niemand, der sie einmal von der Anklagebank aus gehört hat, wird ihr Geräusch jemals wieder vergessen; irgend jemand, ich weiß nicht mehr, wer, hat einmal gesagt, sie erinnere ihn an einen Zwerg, der in einen Blecheimer pinkelt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, Wasseruhren hat man mit der Absicht entwickelt, den Angeklagten abzulenken; man sitzt da, lauscht dem ständigen Gluckern und Plätschern und vergißt vollkommen das Belastungsmaterial, das sorgfältig um einen herum aufgeschichtet wird wie eine Mauer um eine belagerte Stadt. Kommt man dann selbst mit der eigenen Rede an die Reihe, lauscht man immer noch auf das Wasser und verliert, wie Theseus im Labyrinth, mitten im besten Satz die Orientierung. Von diesem Geräusch bekomme ich heute noch Alpträume, und dann wache ich schweißgebadet auf, nur um festzustellen, daß es in Wirklichkeit der vom Dach tröpfelnde Regen oder einer der Sklaven ist, der gerade die Milch abschöpft.
    Demeas begann mit einer heftigen Attacke. Zwar weiß ich nicht mehr, wen oder was er angriff – ich glaube, es drehte sich in erster Linie gar nicht um mich –, aber ich sah, wie die Gesichter der Geschworenen immer grimmiger wurden, als er sie an das furchtbare Unrecht

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