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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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davon erzählt, wie er ein einziges Mal vor einer großen Zuhörerschaft hatte sprechen müssen. Es handelte sich um einen völlig belanglosen Prozeß, bei dem es um einen kleinen Betrag ging, den ihm ein Nachbar schuldete, und nachdem sich Philonides lange den Kopf zerbrochen und die Sache hinausgeschoben hatte, brachte er die Angelegenheit schließlich vor Gericht. Er schrieb eine glänzende Rede, die er selbst halten wollte, und lernte sie perfekt auswendig. Dann probte er sie vierzehn Tage lang ununterbrochen vom Sonnenaufgang an bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er besuchte das Gericht, um sich an die dortige Atmosphäre zu gewöhnen, holte Rat von erfahrenen Prozeßführenden ein und las sogar einige Bücher zu diesem Thema. Doch als der Tag kam und die Wasseruhr zu laufen begann, verschlug es ihm die Sprache. Seinen gewaltigen Bemühungen zum Trotz brachte er kein einziges Wort hervor, so daß er den Prozeß praktisch durch (geistiges) Nichterscheinen vor Gericht verlor. Dennoch handelte es sich um denselben Mann, der imstande war, die aufsässigsten Chöre zurechtzuweisen, Berufsschauspielern die Tränen in die Augen zu treiben und Autoren zum Umschreiben ihrer besten Reden umzustimmen, und das alles durch die bloße Macht seiner Persönlichkeit. Und nun bat ich ihn, bei den Großen Dionysien im Dionysostheater vor vielleicht achtzehntausend Menschen zum erstenmal in seinem Leben auf die Bühne zu treten und die Hauptrolle in einer Komödie zu spielen.
    Schweigend saßen wir da und beobachteten uns dabei gegenseitig wie zwei streunende Hunde auf dem Markt, die sich um einen Brocken Fleischabfall streiten, wobei uns lediglich bewußt war, daß an diesem Nachmittag einer von uns beiden die Hauptrolle in einer Komödie würde spielen müssen.
    »Weißt du«, sagte Philonides nach sehr langem Schweigen, »wenn du dich ein bißchen gerader hältst und ganz langsam sprichst, könnte es klappen.«
    Mit frostigem Lächeln entgegnete ich: »Schauspielen soll ja etwas ganz anderes sein, als Reden vor Gericht zu halten. Vor allem hast du das Publikum auf deiner Seite, und wenn du die Anfangsnervosität erst einmal abgelegt hast, macht es dir wahrscheinlich sogar Spaß.«
    Als hätte ich nie einen Ton von mir gegeben, ging Philonides überhaupt nicht auf mich ein – dafür besaß er eine Begabung, die er beim Umgang mit Schauspielern äußerst wirkungsvoll einsetzte –, als er fortfuhr: »Immerhin ist es noch nicht so lange her, daß die Verfasser die Hauptrolle häufig selbst gespielt haben. Vor dem Krieg war das etwas ganz Normales. Aischylos hat das immer so gemacht.«
    »Gerade Aischylos war es, der dem ein Ende bereitete, indem er den zweiten Hauptdarsteller einführte«, korrigierte ich Philonides. »Ich erinnere mich, einmal von jemandem gehört zu haben, daß Aischylos beim Betreten der Bühne jedesmal mit einem furchtbaren Ausschlag auf dem ganzen Gesicht erschienen sein soll. Er brauchte eine besonders gefütterte Maske.«
    Nun probierte es Philonides auf andere Weise. »Für euch Theaterdichter muß es doch furchtbar ärgerlich sein«, sagte er mit süßlichem Lächeln, »wenn die Zuschauer nach dem Stück herauskommen und sich ausschließlich darüber unterhalten, wie gut Soundso den Helden dargestellt hat, wobei sie den Dichter mit keinem einzigen Wort erwähnen, als ob der Schauspieler seine Rolle aus dem Stegreif gespielt hätte. Und daß du hinter der Maske gesteckt hast, werden sie nie erfahren; sie werden glauben, es habe sich um Philocharmos gehandelt. Verbockst du es, bekommt er die Schuld, legst du eine echte Glanzleistung hin, kannst du am Ende die Maske abnehmen, damit jeder sieht, daß du es gewesen bist.«
    »Keine Angst, die Komödie ist gut, und die lasse ich mir von keinem Dummkopf wie mir verderben«, stellte ich entschieden klar. »Finden wir uns doch mit den Tatsachen ab: Ich könnte nicht einmal die Anfangsszene überstehen, ohne etwas fallen zu lassen oder vom Bühnenrand zu stürzen. Zudem gibt es noch die Stelle, wo der Chor vor mir tanzt; ich bin so klein, daß mich das Publikum gar nicht sähe, nicht einmal dann, wenn ich Kothurne trüge.«
    »Du bist einfach ein Feigling!« schimpfte Philonides verzweifelt. Er war schweißgebadet, selbst auf den Handrücken stand ihm der Schweiß, und seine Augen waren weit aufgerissen.
    »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Genau wie du. Also, wer von uns beiden macht sich nun zum Gespött der Öffentlichkeit?«
    »Ich muß an meinen Ruf

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