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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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zusammentrommeln, und dann fangen wir an.«
    Und deshalb bekam ich nie die berühmt-berüchtigten Experimentierstücke von Euripides zu sehen, die seitdem so bekannt geworden sind; während diese ein größtenteils unvorbereitetes Publikum schockierten, hörte ich auf einem großen Hof hinter dem Speicher eines freundlichen Kornhändlers in der Nähe der Pnyx zum fünften oder sechsten Mal Philonides’ große Rede ab, wobei der äußerst entrüstete Chor in erbärmlicher Weise vor- und wieder zurückstampfte und mit nichts anderem beschäftigt zu sein schien, als auszurechnen, welche Summe er mir für die Überstunden und das Versäumen der Tragödien in Rechnung stellen könnte. Eins muß ich Philonides jedoch zugute halten: Obwohl er sich alle sechs oder sieben Zeilen unterbrach, um mich mit neuen Schimpfwörtern zu belegen, die ihm gerade eingefallen waren, schlug er kein einziges Mal vor, auch nur ein Wort aus dem Stück zu streichen, um sich auf diese Weise selbst das Leben zu erleichtern, noch nahm er an den Bewegungsabläufen und Tanzschritten, die er mit solch unbekümmerter Begeisterung ausgearbeitet hatte, eine einzige Änderung vor. Und jedesmal, wenn er seine Rede beendet hatte und sich umdrehen konnte, um nachzusehen, ob eins der Chormitglieder auch nur um Haaresbreite neben dem ihm zugewiesenen Platz stand, fiel er über den Betreffenden her wie ein Löwe, der eine Ziege verschlingt. Wenn er sich in seinem hohen Alter schon der Lächerlichkeit preisgeben müsse, sagte er, dann könnten wenigstens alle anderen versuchen, es ausnahmsweise einmal richtig zu machen, und jedem, der die Aufführung an diesem Nachmittag verpatze, werde dasselbe wie Aristophanes widerfahren, vielleicht sogar Schlimmeres. Nach sechs Durchläufen des Stücks mit Höchstgeschwindigkeit verkündete Philonides schließlich, jetzt besser denn je vorbereitet zu sein, und alles, was er nun brauche, sei ein sehr starkes alkoholisches Getränk.
    Dieser Absicht stand ich vollkommen ablehnend gegenüber, doch Philonides beachtete mich nicht und schickte einen Sklaven zur Weinhandlung, um ihm einen Krug vom stärksten attischen Wein zu bringen, der aufzutreiben war. Der Sklave stürmte wie ein aufgeschreckter Hase los und kehrte mit einem von Spinnweben bedeckten Krug zurück, der mit dem zweifachen Kreidekreuz markiert war, was normalerweise ›unverkäuflich‹ bedeutete; deshalb dachte ich mir, daß der Sklave irgendwo hingegangen sein mußte, wo Philonides’ Ruf als ›Mann, der einiges vertragen kann‹, gebührend respektiert wurde. Daraufhin machte sich der Sklave wieder auf den Weg, um etwas Wasser zum Mischen zu besorgen, doch das war nur Zeitverschwendung. Philonides durchstieß einfach mit dem Daumen den Wachsverschluß, setzte den Krug an den Mund und schüttete sich den Inhalt hinein. Zwar begoß er sich dabei den Chiton von oben bis unten mit Wein, aber eine ziemliche Menge landete in seinem Mund, und er schluckte immer weiter, bis ich mir ganz sicher war, er müsse gleich platzen. Dann setzte er den Krug ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und strahlte übers ganze Gesicht.
    »Schön«, sagte er. »Bringt mich zum Theater. Einer nimmt den Krug mit, vielleicht brauche ich ihn noch mal.«
    Wir packten die Kostüme ein, zählten den Chor durch, um uns zu vergewissern, daß niemand fehlte, und machten uns zum Theater auf. Als wir eintrafen, mußten wir feststellen, daß wir fast zu spät gekommen wären; der Chor aus der Helena ging gerade unter ziemlich unregelmäßigem Beifall ab, und die Zuschauer unterhielten sich bereits äußerst lautstark über das zuvor Gesehene. Ich eilte zu dem für mich als Teilnehmer reservierten Platz hinüber (wegen der Stücke von Euripides war das Theater voller, als ich es je zuvor erlebt hatte), vertrieb gewaltsam den Ausländer und seine drei kleinen Kinder, die ihn in meiner Abwesenheit in Beschlag genommen hatten, und setzte mich, um zu verschnaufen. Nur eine Reihe vor mir entdeckte ich Aristophanes, den Sohn des Philippos, der mich anstarrte, als hätte ich wenigstens zwei zusätzliche Köpfe. Ich winkte ihm zu, lächelte und brachte Dionysos ein kurzes Gebet dar. Wenn du mich heil und unversehrt aus dieser Klemme befreist, betete ich, dann werde ich mich höchstwahrscheinlich für immer vom Theater zurückziehen und nie wieder deine Geduld auf die Probe stellen. Da, als ob mir der Gott geantwortet hätte, spürte ich auf einmal etwas unter den Füßen – es war eine

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