Wallentin, Jan
strategische
Position. Sie lag wie eine Art Köder mitten im fruchtbaren Ackerland von
Westflandern, einige Meilen entfernt von der Küste zu England, im Osten Deutschland
und im Südwesten Frankreich. Ein geeignetes Aufmarschgebiet ohne natürliche
Hindernisse, das von nahezu jeder europäischen Armee schon einmal passiert
worden war.
Kurz
nachdem man die Stadt gegründet hatte, wurde sie unmittelbar von einer römischen
Legion geplündert. Und als man durch den Textilhandel im Mittelalter
schließlich einen anspruchslosen Wohlstand erreicht hatte, fielen die Engländer
von Norden aus ein und zerstörten Ypern nachhaltig. Einige Jahre später wurde
die Stadt von der Pest heimgesucht, und am Ende des sechzehnten Jahrhunderts
zählte sie nur noch ein paar Tausend Einwohner. Dann folgten Jahrhunderte
französischer Belagerung, und die Stadt sank in Vergessenheit und Verfall.
Bald war
Ypern stark heruntergekommen und hatte dermaßen an Bedeutung verloren, dass es
äußerst ungewöhnlich war, wenn Schulkinder in Städten wie Brügge oder Gent den
Ort überhaupt auf der Karte lokalisieren konnten. Dabei handelt es sich
immerhin um ein Land mit einer ziemlich begrenzten Ausdehnung.
Im Oktober
1914 brach die großdeutsche Offensive in Richtung der Küstenstädte über
Westflandern und den Norden Frankreichs herein. Für die Alliierten wurde Ypern
zum Stecknadelkopf auf der Landkarte, an dem die hereinrollende Infanteriewelle
aufgehalten werden sollte; der Fixpunkt, der verhindern sollte, dass die französische
Verteidigungslinie überrollt wurde. Das Gebiet wurde bekannt als The Ypres
Salient, die Ausbuchtung der Front bei Ypern, und ein paar
Kilometer außerhalb der Stadtmauern wurden bald darauf die ersten
Schützengräben des Weltkriegs ausgehoben.
Bevor sie
aufgehalten wurden, gelang es den Deutschen, Ypern von drei Seiten zu umringen.
Von den umliegenden niedrigen Hügeln aus konnte man die Stadt nach Belieben
bombardieren. Einen Monat später, im November 1914, zählte man eine viertel
Million Tote und Verletzte, doch die Alliierten verteidigten die Stadt immer
noch. Später nannte man diese erste Schlacht um Ypern den Kindermord, weil auf dem lehmigen Ackerland Westflanderns eine gesamte Generation Heranwachsender
ausradiert worden war.
Ein
knappes halbes Jahr später, im April 1915, wurde eine zweite Schlacht
ausgetragen. Die deutsche Kriegsindustrie hatte eine neue schlagkräftige Waffe
entwickelt: ein Artilleriegeschütz von gigantischem Ausmaß, mit dem man
Sprenggranaten von bis zu tausend Kilo das Stück abfeuern konnte. Nach einigen
Wochen Artilleriefeuer war so gut wie nichts mehr vom mittelalterlichen Ypern
übrig.
Die dritte
Schlacht wurde sinnbildlich zur Ikone des Wahnsinns im Ersten Weltkrieg und ist
unter dem Namen Passchendaele in die Geschichte eingegangen. Vier Monate lang
herrschte Platzregen, während eine Welle von Jugendlichen nach der anderen im
Morast gegen den Stacheldraht und das Feuer aus den Maschinengewehren
geschleudert wurde. Der Versuch der Alliierten, ein Loch in die deutsche Front
zu reißen, dauerte bis zum November 1917 und resultierte einzig darin, dass
weitere hunderttausend Menschen starben. Danach folgte eine Zeit der
Resignation und Erschöpfung, in der beide Seiten das Kriegsende in denselben
Positionen erwarteten, die man eingenommen hatte, als die Kämpfe begannen.
Mit Hilfe
der Kriegsentschädigungen, die eine der Ursachen für den nächsten großen
Zusammenstoß bilden sollten, begann man Ypern während des Herbstes 1918 wieder
aufzubauen. Die provisorischen Lager verschwanden nach und nach, und man
restaurierte sorgfältig den Stolz der Stadt, den mittelalterlichen Palast der
Tüchhallen, der als Umschlag- und Lagerplatz für Textilien genutzt worden war.
Bald wurden die Spitzbogenfenster in ihrem ursprünglichen, ja nahezu
verbessertem Zustand wiederhergestellt. Der siebzig Meter hohe Zentralturm
erhielt 1967 ein neues Glockenspiel. Und als man es endlich einsetzte, schien
es, als hätte die Zerstörung niemals stattgefunden.
Doch für
diejenigen, die nicht vergessen wollten, legte man eine markierte Route an, die
zu den Schützengräben des Ersten Weltkriegs hinausführte. Sie begann an der
monumentalen Fassade der Tuchhallen und verlief mit gelben Pfeilern versehen
durch die Meensestraat, die die jungen Männer auf ihrem Weg zu den Schlachtfeldern
im Nordosten in dichten Reihen entlangmarschiert waren.
Im
Gedenken an die britischen Soldaten, deren
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