Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Retro-Apple in die Runde der fünf Professoren der Kommission in den Bänken vor ihr, beugt sich zum Mikro und sagt: „Meine Damen und Herren.“
18
Sie erinnert sich an das Glas Wasser, das genau hier rechts von ihr auf dem Rednerpult stand, sie hat von dem Sprudel aufstoßen müssen, während ihres Vortrags, und das ist peinlich gewesen, und sie erinnert sich an den grünen Retro-Apple, der sich genau da vor ihr befand, wo jetzt die Ausdrucke liegen, die sie gerade noch mal durchblättert, der grüne Retro-Apple, der fünf Minuten vor Schluß abstürzte, auch das megapeinlich, und sie schaut auf die Uhr an der Wand hinter ihr, Viertel nach, und schaut in die spärlich gefüllten Reihen, die Studenten, die alle noch ganz schön verschlafen aussehen, sie ist immer eingeschlafen in so frühen Vorlesungen, hat dabei sogar immer sehr gut und fest geschlafen, und sie sagt: „Guten Morgen, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur Einführung in die Medientheorie.“
19
Sie schaltet die Stehlampe ein und macht einen Schritt zurück, um zu sehen, ob sie irgendwas vergessen hat, ob alles so OK ist, ob alles schön ist. Ihr fällt auf, daß die Sachen aus der Berliner Wohnung gut hierherpassen. Die Stehlampe ist zwar nicht aus Berlin, sieht aber genauso aus wie die Stehlampe im Schlafzimmer in Berlin. Wendy hat sie hier im Möbelhaus gekauft, sie war, als sie sie dort entdeckte, für einen Moment irritiert, was macht die Stehlampe aus Berlin im Möbelhaus in Konstanz? Konstanz ist scheußlich, findet Wendy. Aber die kleine Wohnung und insbesondere ihr Wohnzimmer sind heimelig geworden. Das Regal aus dem Atelier steht hier im Wohnzimmer an der Wand, der Küchentisch ist der Eßtisch, der Australien-Quilt liegt darunter, besonders peppig auch: die Neger-Büsten, die sie in Berlin im Kellerabteil gefunden und die sie aufs Fensterbrett gestellt hat. Der Papa muß sie in einem Geschäft in Deutschland gekauft haben. Wendy zündet die beiden Kerzen auf dem Tisch an und öffnet ihr Haar.
Nein.
Beim ersten Date soll alles ganz casual und ungezwungen wirken. Alles soll sich so ergeben.
Sie bläst die Kerzen aus, läuft schnell ins Bad, um sich ihr Haar hochzubinden. Heiko muß jede Sekunde hiersein.
20
Sie schlägt das Buch zu, in dem sie gerade gelesen hat.
Sie kommt nicht voran.
Es ist schon Juli, und sie hat nicht viel mehr als das Thema und den Titel ihres zweiten Buches, the bloody second one. Thema und Titel: Oh, Uncle! – Inzestuöse Beziehungen zum Onkel in der viktorianischen Literatur. Sie wird ganz zappelig, sie kennt sich und weiß, was sie machen muß, wenn sie zappelig wird. Sie steht auf, sagt: „Oh, oh, oh“, geht in den Flur und möchte sich auf die Ottomane im Atelier legen, im Dunkeln an die Decke starren, die Geräusche von der Straße draußen hören, als sie im Flur stehenbleibt, weil ihr eingefallen ist, daß ja das jetzt hier, die Berliner Wohnung, seit einem Monat eine WG ist, das Atelier ist nicht mehr das Atelier, sondern Theklas Zimmer, die Ottomane steht nicht hier, sondern in ihrem Schlafzimmer in Konstanz. Richtig! Eigentlich sollte sie auch nicht in Unterhose und knielangem Pulli aus ihrem Zimmer gehen, weil das vor Thekla nicht so gut kommen könnte, keine Ahnung, sie kennt Thekla noch nicht so gut. Aber Physikerinnen haben die Tendenz zur Spießigkeit. Thekla ist aus ihrem Zimmer gekommen, löscht das Licht hinter sich, schaut auf den Schlüsselbund in ihrer Hand, achtet gar nicht auf Wendy, zurechtgemacht hat Thekla sich, gut sieht sie aus.
Die Wohnungstür ist zugefallen. Wendy ist merkwürdig berührt. Sie hat eine Gänsehaut bekommen, vielleicht auch von dem kalten Luftzug aus dem Treppenhaus. Thekla scheint Wendy nicht gesehen zu haben, vielleicht ist Wendy unsichtbar, tot, und sie glaubt nur, daß sie noch lebt, was für ein Blödsinn. Das wirklich Merkwürdige ist aber, daß Thekla in diesem Moment, gerade eben, im Flur, Wendy an sich selbst, vor zehn Jahren vielleicht, erinnert hat, das hochgesteckte Haar, die Lederjacke, die Korallenkette, ja sogar das Profil, Nase wie Wendy, Kinn wie Wendy.
Wendy geht ins Bad, dreht das Licht an, beugt sich ganz dicht vor den Spiegel. Wendy sagt zur Wendy im Spiegel: „Du hast Zellulitis, Krähenfüße kriegste auch, und mit 40 haste ’nen Arsch wie Oma Hansen ausm Erdgeschoß.“
Wendy berlinert. Sie berlinert sonst nie –.
21
Neben Wendy ist Svetlana zusammengezuckt. Professor Moser, im Viereck gegenüber von ihnen, hat laut
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