Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
und barsch – barsch , that’s the word, denkt Wendy – Svetlanas Präsentation des Proseminars über Shakespeares Tragödien, das sie im Sommersemester halten möchte, als inakzeptabel abgelehnt. Die von ihr geleistete Vorarbeit sei dilettantisch und einer promovierten Anglistin nicht würdig. Sie habe jetzt noch zwei Wochen, ein neues Konzept auf die Beine zu stellen, eine Leistung, die er ihr, man sei ja hier unter sich, man könne das ja sagen, nicht – nicht betont – zutraue.
Jeder hier im Raum, das kann Wendy spüren, kennt den tatsächlichen Grund für Professor Mosers Ausbruch. Svetlana ist Professor Pleutgens Assistentin. Professor Moser (C3) haßt Professor Pleutgen (C4). Professor Mosers Angriff auf Svetlana ist ein Angriff auf Professor Pleutgen. Professorin Steegers pflichtet jetzt Professor Moser bei, sie könne sich nicht vorstellen, wie auf der Basis eines solch windigen Konzepts den Studierenden das Nötige über Shakespeares Tragödien vermittelt werden solle. Das bedeutet also – Wendy wußte das bis jetzt nicht –: Auch Professorin Steegers ist gegen Professor Pleutgen. Dieser steht damit am Institut vollkommen isoliert da.
Jetzt wird gleich Professor Pleutgens Gegenschlag kommen, Professor Pleutgen, links von Wendy, ist knallrot angelaufen. Wendy hat ganz kurz unterm Tisch Svetlana über die Hand gestrichen, tröstend. Das Wort zu ergreifen und Svetlana zu verteidigen oder ähnliches – das traut sich Wendy nicht. Eigentlich müßte sie loyal zu ihresgleichen im Mittelbau sein, schließlich könnte theoretisch in diesem Moment auch sie, Wendy, auf Svetlanas Platz sitzen. Die Verurteilung von Svetlanas Proseminar, eine absolut wasserdichte Sache, ist ungerecht. Würde Wendy jetzt, wie sie selbst es von sich wünschen würde, Professor Moser und Professorin Steegers ins Gesicht sagen: „Ungerecht! Ziehen Sie doch Svetlana nicht in Ihre schäbigen Intrigen mit rein!“, kann sie davon ausgehen, daß ihr die Fördergelder für Besuche auf Konferenzen wie in den vergangenen Monaten in Ungarn und Schottland gestrichen werden würden.
Wendy entscheidet, sich nicht wegen so was das Leben unnötig schwerzumachen und die Klappe zu halten, und sie denkt, daß das, was sie früher von sich ausgeschlossen hat, jetzt, hier, eingetreten ist; nämlich daß sie eines von diesen opportunistischen Arschlöchern geworden ist, die, wenn man sie mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert, einwenden: „Das verstehst du jetzt nicht, das ist etwas ganz anderes, mach mal halblang, ne“, eines von diesen opportunistischen Arschlöchern, die sie immer so gehaßt, verachtet und bekämpft hat.
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Als sie in den Hörsaal tritt, ist ihr erster Gedanke: Tatsächlich 2020er Jahre, genauso waren die, und hier, in diesem Hörsaal, schreibt man sie, zeitblasenartig, immer noch. Zwar weiß Wendy nicht wirklich, wie es tatsächlich ausgesehen hat, vor fast einem halben Jahrhundert, aber sie hat so eine Ahnung, daß dieses Institut und insbesondere dieser Hörsaal damals gebaut wurden und seitdem gar nicht oder genau im originalen Stil renoviert worden sind, orange Verkleidung, hellbraune abgeschlagene Stühle, die nach feuchtem Holz miefen, PVC-Boden, der höchstwahrscheinlich krebserregende Substanzen enthält.
Und dann das: Sie hatte Professor Speer, der sie vorstellen würde, zuerst gar nicht glauben wollen, als dieser ihr sagte, es stehe im Hörsaal lediglich ein Beamer zur Verfügung, man – so er – sei halt hier in Greifswald und nicht in Berlin, hahaha. Und wirklich hängt da von der Decke eines dieser Steinzeitobjekte, das letzte Bild aus dem Vortrag ihres Vorgängers wird noch immer an die Wand projiziert, ein nackter Schwarzer, dessen Körper über und über mit Wörtern tätowiert ist, vor allem, wenn man genau hinsieht, mit dem Wort SLAVE : das berühmte Foto eines Body-Artists, der sich seine eigene Familiengeschichte auf den Körper schreiben ließ und im Sommer, lediglich mit Shorts bekleidet, durch New York zog.
So nahe wie befürchtet ist das Thema ihres Vorgängers aber – irgendwas mit dem Begriff des Sklaven als identitätsbildend für schwarze Schriftsteller – wohl doch nicht an dem ihren, man muß auf die Unterschiede achten, On Niggers .
Ausgehend von dem gegenwärtigen Phänomen, daß sich Jugendliche in Europa untereinander statt mit dem Vornamen mit „Nigger“ ansprechen, möchte Wendy anhand zeitgenössischer angelsächsischer Romane sowohl weißer als auch schwarzer Autoren
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