Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Costin in der Nacht angerufen, schluchzend, das war die erste Überraschung gewesen, denn bis dahin hatte Costin Olaf so noch nie erlebt, so total bloß, emotional nackt sozusagen. Die zweite Überraschung war, daß Olafs Vater gestorben war. Also nicht unbedingt die Nachricht vom Todesfall machte Costin für ein paar Sekunden sprachlos, bevor ihm die für die Situation angemessenen Sätze einfielen – Nein, das ist ja furchtbar, wie ist das passiert, wie geht’s dir jetzt, bist du in Ordnung –, sondern, so lächerlich ihm dann seine Verwunderung darüber erschien, daß Olaf, der ja schließlich gegenüber ihnen, seinen Künstlern, oder, wie Olaf sagte, seinen Kindern , immer auf die Big-Daddy-Tour machte, überhaupt selbst einen Vater besessen hatte. Olafs Vater hatte in Toronto gelebt und war gebürtiger Kanadier, wie Olaf dann am Telefon erzählte, weinend, und Costin überlegte, was zum Geier Olaf dazu bewog, gerade ihm, Costin, einem unter doch wahrscheinlich vielen Bekannten, und nicht einmal ein Freund, das alles zu erzählen.
Olaf hatte seinen Vater seit seiner Kindheit, als er zusammen mit seiner Mutter, einer Deutschen, nach Berlin gezogen war, nicht mehr gesehen. Weder er, der Vater, noch Olaf hatten jemals versucht, in Kontakt zu treten. Etwas mußte wohl vorgefallen sein während Olafs Kindheit, Costin wollte da nicht nachfragen, aber irgendwas Großes, das spürte Costin in seinem Hotelbett, hatte da im Raum gestanden, denn Olaf schluchzte zwar weiter, hatte aber in der Gesprächspause „Asshole“ und „dieser Dreckskerl“ gestammelt. Das Telefonat hatte damit geendet, daß Olaf Costin sagte, er werde die nächsten Tage in Toronto sein, um die Erbschaft zu regeln, und er danke ihm, daß er für ihn da sei.
Costin war sich, nachdem er sein Handy auf den Nachttisch gelegt hatte und dann so im Bett lag, Blick auf die Zimmerdecke, plötzlich nach ein paar Minuten nicht mehr hundertprozentig sicher gewesen, ob das jetzt gerade wirklich passiert oder ob das nur so ein super-intensiver Flash gewesen war, so absurd und peinlich hatte sich das da eben angefühlt. Als er im Lauf der folgenden Wochen den üblichen Verdächtigen, das heißt anderen aus dem Popstar -Stall, über den Weg lief, stellte sich heraus, daß sie von der ganzen Sache mit Olaf gar keine Ahnung hatten. Der Grund, warum Olaf zur Zeit nicht erreichbar sei, bestand für sie darin, daß er auf einer Messe in Moskau sei. Toronto? Beerdigung? Vater? Olaf Erdrich und Vater? Hä? Costin hatte langsam realisiert, daß Olaf tatsächlich nur ihm vom Todesfall seines Vaters erzählt hatte, so daß Costin es dann auch unterließ, die anderen darin einzuweihen.
Folgerung aus Olafs AnrufNumber one: Olaf hat sich daran erinnert, wie Costin hier bei ihm auftauchte, als sein, Costins, Vater gestorben war. Olaf mußte annehmen, daß Costin, weil er schon einmal in derselben Situation gewesen war, Olaf und alles, was er gerade durchmacht, versteht.Number two: Olaf hat außer Costin niemanden, dem er das sagen beziehungsweise der seine Gefühle nachvollziehen möchte beziehungsweise könnte.Number three: Olaf ist (unglaublich!) ’ne arme Sau. (Costin schenkt sich Number four: Olaf steht auf Costin.)
Bei seinem ersten Besuch nach Olafs Kanada-Reise hatten Kupferstiche an der Wand gehangen, Ansichten eines Städtchens , Toronto-City 1885 hatte darunter gestanden. Olaf hatte Costin zur Begrüßung umarmt, dann so getan, als sei gar nichts geschehen, immer wenn Costin dann das Gespräch auf Kanada lenken wollte, war Olaf ihm ausgewichen, es schien ihm unangenehm zu sein, daß er Costin soviel von sich verraten hatte, auch zu den Kupferstichen sagte Olaf nichts weiter. Weil Costin davon ausging, daß Olaf in Toronto nicht die Zeit hatte, Andenken zu kaufen, hatte die Annahme nahegelegen, daß es sich um Erbstücke handelt. Costin hat sich wieder auf dem schwarzen Ledersofa zur Seite, zu Olaf gedreht, der die ganze Zeit über auf ihn eingeredet hat, ohne daß Costin ihm wirklich zugehört hätte. Olaf ist sehr nah an Costin gerückt, er hat den Kopf in den Nacken gelegt, seine Augen sind geschlossen, manchmal hebt er die Hand, um etwas zu betonen, sein schulterlanges nach hinten gekämmtes graues Haar ist etwas fettig, und auch eine Rasur wäre mal wieder fällig.
Und das müsse er, Olaf, ihm noch erzählen, das sei der Hammer, das sei jetzt witzig, also, der Opa, der bei ihm im Haus wohne, den habe er sicher auch schon einmal im Treppenhaus getroffen –
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