Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
»Du bist ein undankbarer Mensch. Herr Dr. Simmer hat dir Manches beigebracht; du hast ihm viel geistige Anregung und Belehrung zu verdanken . . .«
»Er hat mir beigebracht, daß 2×2=5 sei,« rief Karl erregt, »Dinge, die ich erst mit großer Anstrengung und furchtbaren Seelenkämpfen wieder aus dem gesunden Geistesorganismus ausstoßen mußte.«
»Ach,« fiel ihm der Vater streng ins Wort. »laß diese Philosophie! – Dr. Simmer hat seine Pflicht getan und du hast Wichtiges bei ihm gelernt. Das ist nicht in Abrede zu ziehen und ich verlange von dir, daß du ihn um Verzeihung bittest.«
Emma warf ihm einen herzlich bittenden Blick zu.
»Gut!« sagte der Angefahrene barsch. »Ich tus!«
Emma erhob sich. »Recht so, Herr Karl!« wendete sie sich herzlich an ihren jungen Freund. »Wir müssen Alle von unsern Idealen und Grundsätzen im Leben die Hälfte aufgeben. Sonst kommen wir nicht durch.«
»Ich habe so ein Vorgefühl davon!« lächelte Karl schmerzlich ironisch. »Was soll der junge Bergsteiger tun, wenn sogar sein Führer, um zum Gipfel zu kommen, auf allen Vieren kriecht?«
Emma unterdrückte ein Lächeln. Sie fand diesen satirischen Vergleich wieder mal prächtig und sah im Geist den Direktor mühsam die Gletscherwand des Staatsdienstes hinaufkriechen. Dem Direktor gefiel die Andeutung weniger . . . denn er hatte allerdings viel Idealismus und Mannesstolz opfern müssen, um diesen bescheidenen Berggipfel einer Direktorstelle zu erreichen.
»Ich nehme mein Verbot zurück,« sagte er zu Karl. »Du darfst Fräulein Dorn besuchen. Es wird mir übrigens auch eine Freude sein, das Fräulein öfter bei mir zu sehen.«
»In der Tat?« lächelte sie.
»Ja, gewiß,« bestätigte er. »Warten Sie . . . Karl, ruf die Mama! Meine Frau wird Sie auch gerne kennen lernen.«
»Sehr angenehm,« beteuerte Emma, indes Karl ging.
Gleich darauf trat die Frau Direktor im rotgeblümten wollnen Hauskleid ein, entfaltete ihre ganze Liebenswürdigkeit und dankte dem Fräulein dafür, daß sie sich ihres im Leben so unpraktischen Sohnes so herzlich angenommen.
»Das tut man ja gern,« versicherte Emma;»für einen solch talentvollen Menschen!«
»Mein Gott,« sagte Katharina mit einem gelinden Seitenhieb, »mein Kind findet so wenig tieferes Verständnis zu Hause; da muß es wohl auswärts eine Aussprache suchen.«
»Das wird schon besser werden,« wendete das Fräulein ein.
»Glauben Sie?« warf Katharina hin. »Ach! mein Mann kommt vor lauter Erziehung anderer Kinder nicht zur Erziehung der eignen . . .«
»Das ist wie in den Pfarrhäusern,« stimmte er lachend ein. »Die Kinder der Pfarrer und Lehrer misraten besonders oft. Es ist wahr, die Schule verschlingt dermaßen mein Interesse, daß ich mich leider gar wenig dem Hause widmen kann. Ich bin erst Beamter, dann Vater; ich will mir nicht nachsagen lassen, ich bevorzuge meine Kinder.«
»Du bist halt gar zu pflichtgetreu!« meinte seine Frau mit leiser Ironie und dankte dann noch einmal dem Fräulein, indem sie ihr das Versprechen abnahm, baldigst ihren Besuch zu wiederholen.
Emma versprach dies und verabschiedete sich dann.
Körn hatte, während sie zur Türe hinausgingen, die beiden Frauengestalten unwillkürlich verglichen, – hier Emma, ein wandelndes Paradies. – dort seine Frau, die Wüste Sahara. Er suchte diesen Eindruck eifrig in sich zu bekämpfen, oder wenigstens abzuschwächen, – er war ja ein so gewissenhafter Ehrenmann. Auch als Männchen suchte er ein pflichttreuer Mustermensch zu bleiben. Doch merkte er, daß es weit leichter ist in rein geschäftlichen, rein materiellen oder geistigen Fragen die abstrakte Vernunft, den kategorischen Imperativ walten zu lassen, als in Herzensangelegenheiten. Wo das Reich der Phantasie, des Gefühls anfing, da hörte die stramme sittliche Selbstzucht auf. Hier gab es keine sichtbaren Vorgesetzten, keine sichtbaren Regeln oder Ministerialerlasse, – hier herrschten unbegrenzte Möglichkeiten, hier konnte ihm keine Regierung hineinreden.
Als Katharina wieder zurückkam und versicherte, Fräulein Dorn habe ihr einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen, nickte er stumm.
»Sie ist in der Tat liebenswürdig,« sagte er; »auch sehr begabt und, wie es scheint, tugendhaft.«
»Du hast dir ein ganz falsches Bild von ihr gemacht,« tadelte sie. »Das geht dir oft so mit deinen spießbürgerlichen Vorurteilen.«
»Man hat sich allerdings in ihr getäuscht,« gab er zu. »Es ist nicht in Abrede zu
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