Walpar Tonnraffir und der Zeigefinger Gottes (German Edition)
Versteck.« Gefolgt von dem Androiden, der mit einer Pillendose klappert, trottet sie in den Gemeinschaftsraum. Dort gibt es nur ein Gesprächsthema: den Finger Gottes.
»Et jibt überhaupt keen Zweifel«, deklamiert gerade Herr van de Keupel.
Für seine 90 Jahre sieht er verdammt gut aus, findet Frau Randolf, aber er hat nur Augen für Schwester Corinna. Das ist das einzige menschliche Personal, das gelegentlich auftaucht, um den Anschein von Anwesenheit zu erwecken und defekte Androiden abzuholen. Letzteres nimmt Herr van de Keupel gerne zum Anlass für Manipulationen an den Blechpflegern, die ihm daher aus dem Weg gehen.
»Und was will Er uns damit sagen«, murmelt Herr Vastic und knibbelt an einem Keks herum, der vom letzten Kaffeetrinken liegen geblieben ist. Ein halbes Dutzend weiterer Senioren liegt betäubt in Holzsesseln und gafft geradeaus.
»Wir sind heute aber brav«, jodelt Ulf, der Androide, als Frau Randolf endlich ihre Pille genommen hat.
»Dass wir gefälligst brav sein sollen?«, schlägt Herr Vastic vor und wirft den Keks nach Ulf.
»Aber Herr Vastic! Wir sind ja ganz schön frech heute. Warten Sie, ich bringe Ihnen einen neuen Keks.«
»Kann sein«, sagt Herr van de Keupel, »dat müsste man mal jenauer analysieren.« Er war früher Unternehmensberater, bis er mit 40 zu alt für den Job war und mit einer saftigen Abfindung in Rente geschickt wurde. Keupel siedelte nach Io um, verbrachte die meiste Zeit in einem der berühmten Spielcasinos, bis er kein Geld mehr hatte, um den Jupitermond je wieder zu verlassen. Mehr als ein gemischtes Achtbettabteil im Geblümten Engel konnte sich der Sozialkonzern nicht leisten, deshalb verbringt Keupel seinen Lebensabend im Gemeinschaftsraum von Station Vier und zwar hauptsächlich mit dem Entwerfen von Strategien, um Schwester Corinna ins Bett zu kriegen.
Dreimal hat er es schon geschafft. Hat er jedenfalls letzte Woche beim Skatabend behauptet.
Jetzt wirft sich der groß gewachsene Greis in die Brust, hebt den Zeigefinger und deklamiert: »Gott ist nicht tot! Er lebt, es geht ihm gut, und inzwischen arbeitet er an einem weniger anspruchsvollen Projekt.«
Die Senioren kichern und Pfleger Ulf wird nervös, weil das normalerweise nichts Gutes für ihn bedeutet.
»Holzhacken«, schlägt Herr Vastic vor.
»Wieso dat?«, fragt Herr van de Keupel.
»Dabei hat er sich den Zeigefinger abgetrennt«, sagt Herr Vastic und illustriert den Vorgang gestisch.
»Au!«, verzieht Herr van de Keupel das Gesicht.
»Meine Herren«, mischt sich Frau Randolf in das Gespräch, »wurde bereits bewiesen, dass es sich um einen Zeigefinger handelt?«
»Hm«, macht van de Keupel und schaut misstrauisch zu einem der vier Wandschirme, auf denen im Moment drei Nachrichtensendungen über den Finger und eine Verkaufsshow für Wollmützen laufen.
»Und wenn es nun sein Mittelfinger ist?«, versetzt Frau Randolf stolz.
Auf die Idee ist sonst noch keiner gekommen. Herr Vastic nickt ihr beeindruckt zu, dann knibbelt er weiter an seinem neuen Keks.
»Sie meinen, er zeigt uns den Mittelfinger, Frau … äh …«
»Randolf«, zischt die Seniorin, verschränkt dann die Arme vor der Brust und schweigt eisern.
Bildschirm Nummer zwei zeigt jetzt einen Werbespot:
Das besondere, erhebende Erlebnis – Müller Tours bringt Sie hin – buchen Sie jetzt den Tagesausflug – inklusive Andacht auf dem Fingernagel – Günstige Last-Minute-Angebote … »Ich buche sofort«, verkündet Herr van de Keupel, »dann kann ich mir vor Ort ein qualifiziertes Bild machen.«
»Die lassen Sie doch gar nicht hier raus«, sagt Herr Vastic.
»Ulf«, ruft van de Keupel, »findest du nicht auch, dass wir schon lange keinen Ausflug mehr gemacht haben?«
Der Pflegeandroide rollt heran und setzt sein Standardlächeln auf, während er überlegt, ob es sich um eine Fangfrage handelt. Da Herr van de Keupel heute seine Tablette noch nicht genommen hat, hält er das für möglich und antwortet vorsichtig: »Schon möglich.«
»Dann organisier doch mal einen Anstaltsausflug zu Gottes Finger. Ich bin sicher, es ist genügend Geld in der Kaffeekasse.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, antwortet Ulf ernst, weil seine Programmierung das Wunschziel der Senioren nicht näher kennt. Mit freundlichen Floskeln und dem Füttern oder Trockenlegen von Senioren kennt er sich ganz gut aus. Darüber hinaus fehlt es seiner Software an Klasse.
Deshalb rollt er hinaus und läuft in eine Endlosschleife, während er in der Stationsdatenbank eine
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