Walpurgistag
Ziebarth gar nicht in hängendem Zustand gesehen. Rudolf hatte auf dem Dachboden nachgeschaut und ihr später jede Einzelheit geschildert. Sie hat so oft davon geträumt, dass sie fast schon überzeugt war, Kalle Ziebarth selbst abgeschnitten zu haben.
Gerda Schweickert öffnet den erstbesten Karton. Nein, zu Kalle und seiner Familie kommen Teddy Lumpi und Gerdas drei Lieblingskissen nicht. Sowieso muss sie Kalle von Frau und Kindern trennen. Das Klatschen mit dem Gürtel, das durch jede Wand zu hören war, tat Gerda Schweickert so weh, dass sie beim ersten Mal, als es passierte, Ziebarths Frau war hochschwanger mit dem ersten Kind, auf Strümpfen in die Apotheke im Vorderhaus rannte und von dort aus die Polizei anrief. Aber Ziebarths Frau leugnete, jemals geschlagen worden zu sein, und die Polizisten zogen wieder ab. Fortan holte Gerda Schweickert immer die Feuerwehr, die, wenn Gefahr in Verzug war, auch schon mal die Wohnung mit ihren schweren Stiefeln auftrat, was man heute noch am gesplitterten Türrahmen erkennen kann. Ziebarths Frau kommt mit den drei Kindern zur Kaffeemaschine.
In welchem Karton sind überhaupt die Stifte, damit sie die Namen auf die Kiste schreiben kann? Ihr fällt ein, dass unter der Spüle noch ein Stück Kreide liegt, das sie aus dem Kindergarten mitgenommen hat, um den Umriss eines Kleiderschnitts auf ein Stück Stoff zu zeichnen. Sie näht schon seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr, deshalb steht die alte Singer-Maschine auch in der Sperrmüllecke, das Stück Kreide ist aber noch da. Morgen wird sie Ballast abwerfen wie eine, die mit dem Ballon wegfliegt. Quatsch! Ein Ballon fährt, der fliegt nicht.
Dann öffnet Gerda Schweickert die zweite Kiste. Es sind Schuhe drin. Sie nimmt die Kreide und schreibt groß »Brade« auf den Karton. Das wird die Wohnung parterre links. Frau Brade, Vorname vergessen. Hauswartsfrau. Kinderlose Kriegerwitwe. Erster Weltkrieg. Früher Plätterin. Zu Hause. Diese Dämpfe immer. Deshalb hatte sie Rheuma und Gicht gleichzeitig. Aber auf sie war immer Verlass. Also kriegt sie die Schuhe. Wahrscheinlich werden sie beim Auspacken geputzt sein. Gerda Schweickert schiebt den Karton mit dem Fuß um die Ecke in die Küche. Parterre neben Frau Brade kommt die Behausung von Trudchen Harrer, die dunkelste Wohnung des Hauses, aber mit kleinem Gärtchen zum zweiten Hinterhof, wo keine Blüte das Licht der Welt erblickt. Da kann auch keine Sanierung was dagegen machen, und Gerda Schweickert fragt sich, wem die neuen Besitzer die Wohnung zur dreifachen Miete wohl andrehen werden. Der Karton mit dem Meissner Porzellan ist zu gut für Trudchen. Sie öffnet den nächsten. Nippes. Meist Reiseandenken der Westverwandtschaft, Kamele aus Marokko und Rosenparfüm aus der Türkei. Zu schade zum Wegwerfen, aber eigentlich auch nur Ballast. Passt aber gut. »Harrer«, schreibt Gerda mit Kreide auf die Pappe.
Nun sucht sie einen Karton für den Geist von Frau Kümmerlein, die in der ersten Etage rechts wohnte, ein Urgestein, deren Großmutter die Wohnung 1890 trockengewohnt hatte, und seitdem war die Wohnung immer an die nächste Generation weitergegeben worden. Zwei Jahre vor dem Ende der DDR ist Anna Kümmerlein zu ihrer Tochter nach Westberlin ausgereist. Bald
bekam sie Heimweh, und dann ist sie jeden Tag wiedergekommen, die Wochenenden ausgenommen, denn ihre Tochter sollte es nicht wissen. Jeden Tag zahlte sie fünfundzwanzig Mark Eintrittsgeld, das waren im Monat fünfhundert Westmark, ihre gesamte Rente. Ein stolzer Preis für ein bisschen Heimweh. Sie hat immer ihren eigenen Kaffee mitgebracht, das blieb das Einzige, was ihr am Westen gefiel, und dann starrte sie den ganzen Tag auf die Woldenberger Straße, die volle, halb volle oder leere Kaffeetasse in der Hand. Und am Abend ist sie wieder in den Westen gezuckelt. Das ging ein Jahr lang so, Rudolf war schon nahe dran, die Geduld zu verlieren, aber Frau Kümmerlein bekam das nicht mit, sie war schwerhörig. Dann blieb sie eines Tages aus. Gerda Schweickert, die damals schon Rentnerin war, fuhr in den Westen und klingelte an der Tür der Tochter. Die teilte ihr über die Wechselsprechanlage den Tod der Mutter mit, in einem Ton, mit dem sie wohl auch die Vertreter abwimmelte.
Frau Kümmerlein stopft Gerda in die Küchenkiste zu den Reinigungsmitteln. Hätte eigentlich besser zu Frau Brade gepasst, aber egal, Frau Kümmerlein hat immer die Krümel vom Küchentisch gewischt. Die Kiste ist ihr zu schwer, und wahrscheinlich
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