Walter Ulbricht (German Edition)
sagen wollte. Das Trauma der Belagerung quälte alle Leningrader und bestimmte das Bild von »den Deutschen«.
Ach, ich merkte aber, dass meine Russischkenntnisse nachließen. Ich freute mich darum, als die ersten russlanddeutschen Aussiedler ins Dorf kamen, und ich hoffte, die Sprache wieder aktivieren zu können. Aber die wollten nur Deutsch sprechen, um sich rasch zu integrieren. Das verstand ich. Jetzt lebt von ihnen noch eine Familie in Kotelow. Wir sprechen nun häufiger wieder miteinander russisch. Sie sagen mir: Wenn sie gewusst hätten, was sie hier erwartete, wären sie lieber zu Hause, in Russland, geblieben.
Du warst damals in Leningrad die einzige Deutsche in eurer Klasse?
Ja, die sechs anderen hatten andere Ausbildungsrichtungen.
Und dann bist du 1958 in die DDR zurückgekehrt. Wo bist du da gelandet?
Ich wurde in die LPG Friedrichshof an die dortige MTS delegiert. Friedrichshof war ein kleiner Ort, aber das erste vollgenossenschaftliche Dorf im Bezirk Neubrandenburg. Zum Erntefest kamen Max Steffen 4 und eine Gruppe des Bolschoi aus Moskau, die gerade in Neubrandenburg gastierte.
Tänzer aus dem weltberühmten Tanztheater hier in diesem winzigen Dorf, das kaum auf der Landkarte zu finden ist?
So ist es. Die Dolmetscherin war so aufgeregt und bat mich zu helfen, ich käme doch soeben aus Leningrad und könne gewiss mit Russen umgehen. Das war mir peinlich. Die Frauen auf dem Lande, ich auch, trugen damals selten Hosen. Ich lief im Rock über die Stoppelfelder und hatte folglich völlig zerkratzte Waden. Und dazu die makellosen Beine der Balletttänzerinnen … Der Unterschied fiel selbst den Bauern auf, die unten vor der Bühne standen. Es war trotzdem ein wunderschönes Fest.
Dann ging der LPG-Vorsitzende von Kotelow nach Meißen, und ich wurde so lange bekniet, bis ich einwilligte, seine Funktion zu übernehmen. Natürlich nur befristet, wie man mir sagte. Als Traktoristin verdiente ich damals etwa 600 Mark, als LPG-Vorsitzende bekam ich die Hälfte ...
Du bist ziemlich rasch politisch aktiv geworden, bist in die Bezirksleitung Neubrandenburg der SED gekommen, in den Bezirkslandwirtschaftsrat … Da war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, dass du mit Walter Ulbricht zusammengetroffen bist. Wann bist du ihm zum ersten Mal begegnet?
Das war im Herbst 1960. Max Steffen4 und etliche aus der Bezirksleitung, darunter auch ich, wurden nach Berlin ins Politbüro einbestellt, und dort wurde uns eröffnet, dass Steffen abgelöst werde. Es sollte dann nach einem kurzem Interregnum »Schorsch« Ewald 5 diese Funktion übernehmen. Er kam, anders als Steffen, aus der Landwirtschaft und sollte erfolgreicher als sein Vorgänger den Agrarbezirk entwickeln.
Als er von Rügen wegging, war das ein großer Verlust für uns: Schorsch Ewald war der 1. Kreissekretär der SED auf Rügen, als ich dort FDJ-Funktionär wurde. Von dem habe ich viel gelernt, das war ein toller Kerl. – Welchen Eindruck hattest du damals von Ulbricht?
Ich war ein kleines Mädchen vom Lande. Ich war überrascht und fasziniert zugleich, weil dieser große Mann – er war immerhin der Erste in Partei und Staat – sich ganz normal und ohne Distanz zu unsereinem verhielt. 1963 wurde ich zum Parteitag delegiert, dort saß ich auch im Präsidium. Ich bekam die Aufforderung, mich in einem bestimmten Zimmer zu melden, was ich auch tat. Dort wartete bereits Schorsch Ewald. »Margarete, du auch?«, sagte er überrascht, wobei diese Frage andeutete, dass er wusste, was uns bevorstand. Schließlich kam Walter Ulbricht und sagte, man sei der Meinung, dass ich Kandidat des Politbüros werden solle. Ich wehrte ab und erklärte, dass ich nicht reden könne. – Ich verstünde aber mit den Bauern zu sprechen, sagte Ulbricht, das wäre viel wichtiger als irgendwelche Reden zu halten.
Hat er darüber gesprochen, was da im Einzelnen im Politbüro auf dich zukäme? Ich meine, du warst 32 Jahre alt und wohl kaum mit den Innereien der politischen Führung vertraut.
Nein, darüber hat er nicht mit mir gesprochen. Ich wurde, wie man so sagt, ins kalte Wasser geworfen.
Du hast dich aber auch werfen lassen, dein Widerstand war nicht nur mäßig, sondern auch, wirst du zugeben, argumentativ nicht überzeugend.
Der Begriff »Parteidisziplin« war mir schon damals vertraut. Andererseits, und das hatte ich durchaus verstanden, wollte Ulbricht in der Führung Praktiker aus der Landwirtschaft, also Menschen, die sich auf diesem Felde im Wortsinne auskannten.
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