Walter Ulbricht (German Edition)
der materiellen Lebensbedingungen im Osten mindestens stagnierte, zumal die sowjetische Führung – das Ende der Reparationszahlungen vor Augen – besonders kräftig zulangte. Hinzu kam die Forderung nach Erhöhung der »Verteidigungsanstrengungen« durch Moskau, denn in Korea tobte seit Jahren ein heißer Krieg und der Kalte Krieg in Europa spitzte sich zu, in der Bundesrepublik marschierte die Wiederaufrüstung.
Unter diesem Druck sah die DDR-Führung die einzige Möglichkeit in der Erhöhung der Arbeitsnormen in den volkseigenen Betrieben, der Anhebung der Abgabemengen der Bauern und Kürzungen der Sozialleistungen. Privatunternehmern, selbständigen Handwerkern und Gewerbetreibenden wurden die Lebensmittelkarten entzogen mit Hinweis, sie sollten in der HO kaufen. Dort waren die Lebensmittel erheblich teurer. Diese Maßnahmen sorgten für verständlichen Unmut, die Forderungen nach ihrer Rücknahme wurden immer lauter und waren nicht mehr zu überhören. Die Führung der DDR reagierte darauf und nahm am 11. Juni einen Großteil der unpopulären Vorschriften zurück. Es wurde die Politik des Neuen Kurses verkündet.
Doch ehe die Kurskorrektur »unten« ankam, und zumal der Westen – insbesondere der Rundfunk im amerikanischen Sektor ( Rias ) – die sozialen Spannungen zu politischen erklärte und sie zielgerichtet schürte, gingen viele auf die Straße. Am 16. Juni 1953 bildeten sich große Demonstrationszüge von Produktionsarbeitern, die die sofortige Rücknahme der Normenerhöhungen forderten. Etwa 10.000 Werktätige versammelten sich schließlich vor dem Sitz der Regierung im »Haus der Ministerien« in der Leipziger Straße in Berlin. Ihnen wurde mitgeteilt, dass die Regierung auch die Normenerhöhungen wieder zurückgenommen habe. Das wurde begrüßt, aber einzelne Redner versuchten mit einigem Erfolg, die Demonstranten zu radikalisieren und aufzuhetzen, indem sie den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen forderten. Dennoch blieb es friedlich. Das änderte sich am nächsten Tag, dem 17. Juni. In Berlin und in anderen Großstädten der DDR, wo es zu Gewalttaten kam, erklärte die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand und ließ die Panzer rollen.
In anschließenden Verfahren gegen Randalierer wurde deutlich, dass westliche Dienste maßgeblich an den Vorgängen beteiligt waren. Egon Bahr, seinerzeit beim Rias , räumte die Beteiligung an den Vorgängen in der DDR ein: »Der Rias war, ohne es zu wollen (? – K. W.), zum Katalysator des Aufstandes geworden. Ohne ihn hätte es den Aufstand so nicht gegeben.« 6
Anfang Dezember 1953 wurde ich in meinem Berliner Quartier in der Schönhauser Allee gegen Mitternacht unsanft laut von drei Herren geweckt. Sie wiesen mir ihre Papiere vor, mit denen sie sich als Mitarbeiter des Staatsekretariats für Staatssicherheit auswiesen. Sie forderten mich auf, sie »zur Klärung eines Sachverhalts« zu begleiten. Es sei sehr dringlich. Am Ende der Fahrt fand ich mich in einer spartanisch eingerichteten Zelle in Hohenschönhausen wieder. Heute heißt man diesen Trakt in der Gedenkstätte »U-Boot«, vielleicht hieß es in der damaligen U-Haftanstalt auch schon so.
Binnen eines Vierteljahres wurde ich 46 Mal vernommen. Ich konnte keine substanzielle Antwort auf die ewige Frage nach meiner »Feindtätigkeit« geben. Ich war mir nicht der geringsten Schuld bewusst.
Ich gebe zu: Als ich durch die Kellerluke die Weihnachtsglocken hörte, neben mir auf der Pritsche eine Blechschüssel mit lauwarmem Malzkaffee und zwei Scheiben Brot mit Magarine sah, und an die Familie dachte (die, wie ich später erfuhr, nichts von meinem Verbleib wusste), wurde ich sentimental und fast veranlasst, zu gestehen, was man von mir zu hören wünschte – in der illusionären Erwartung, dass ich dann nach Hause gehen könnte. Aber schlimmere als solche »Denkanstöße« gab es nicht, was Mithäftlinge bestätigen. Ich stelle das hier ausdrücklich fest, weil der Leiter der »Gedenkstätte« mit nahezu krankhafter Fantasie Schauergeschichten über die Folter im U-Boot verbreitet. Ich saß dort ein Vierteljahr und weiß es darum besser.
Meine Beschwerden und Unschuldsbeteuerungen wurden schließlich doch ernst genommen und die »Belastungszeugen« noch einmal gründlich verhört. Wie später bei einer Gegenüberstellung klar wurde, handelte es sich bei den Denunzianten um den Leiter der zentralen Finanz- und Vermögensverwaltung der LDPD, Bezirkssekretäre aus Halle und Magdeburg und einen
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