Walter Ulbricht (German Edition)
Versäumnis Walter Ulbrichts hinsichtlich seiner Personalpolitik aufmerksam. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er aus dem Politbüro einen Seniorenklub machen wollte, denn er sorgte bereits sehr früh dafür, dass sogar sehr junge Genossen ins Politbüro gewählt wurden. Ewald, Kleiber, Jarowinsky, Halbritter, Mittag waren zum Zeitpunkt ihrer Zuwahl meist noch nicht einmal vierzig Jahre alt, und sie waren Fachleute auf den Gebieten, die für die weitere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft von großer Bedeutung waren. Aber er war – aus welchen Gründen auch immer – viel zu lange auf Erich Honecker als favorisiertem Nachfolger fixiert, obwohl ihm dessen begrenzte Fähigkeiten nicht verborgen geblieben waren. Honecker konnte den Parteiapparat dirigieren und die damit verbundenen Machtmittel sehr gut nutzen. Aber er war in theoretischer Hinsicht relativ schwach. Auch war seine Eitelkeit ein charakterliches Manko. Walter Ulbricht hatte es offenbar versäumt, rechtzeitig andere personelle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und eventuell mehrere potenzielle Nachfolger darauf vorzubereiten, den Reformkurs konsequent fortzusetzen. Als er sich endgültig zu der Einsicht durchgerungen hatte, dass Honecker dafür nicht in Betracht käme, war es bereits zu spät.
Die Tatsache, dass er erwog, Alfred Neumann 2 vorzuschlagen, der im Politbüro seinen Kurs konsequent unterstützte, bestätigt das. Neumann selbst hat später gesagt, dass diese Aufgabe für ihn eine Nummer zu groß gewesen wäre und er sie daher auch nicht übernommen hätte.
Dieses Dilemma betraf aber nicht nur die SED und Walter Ulbricht, sondern verweist auf einen grundsätzlichen Mangel in allen sozialistischen Ländern und deren regierenden Parteien, denn es gab keinen durch Parteistatut und Verfassung geregelten Modus für die Übergabe der höchsten Führungspositionen an die nächste Generation. Häufig wurde das Problem erst – wie im Vatikan – durch den Tod gelöst oder aber durch schädliche Diadochenkämpfe mit all ihren meist negativen Folgen.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass Walter Ulbricht lange Zeit in der Bevölkerung nicht sonderlich beliebt war. Das hatte viele Ursachen, die nicht so sehr mit ihm persönlich zu tun hatten als mit den schwierigen Verhältnissen der Nachkriegszeit. Es ist ja immer sehr leicht, für Mängel und Missstände einen Schuldigen zu finden, und da er eine große Verantwortung trug, wurde ihm vieles angekreidet, das zu ändern gar nicht in seiner Macht lag. Aber im Laufe der Zeit wendete sich die Haltung ihm gegenüber mehr und mehr ins Positive, und besonders in den 60er Jahren fand er zunehmend Anerkennung und Achtung.
Auch meine persönliche Haltung ihm gegenüber war, wie eingangs schon erwähnt, keineswegs frei von Widersprüchen und kritischen Vorbehalten, die dazu führten, dass ich nicht zu seinen Anhängern gehörte, wenngleich ich immer großen Respekt und Achtung vor seinen Fähigkeiten und Leistungen hatte. Meine persönliches Verhältnis zu ihm wurde in den 60er Jahren zunehmend positiver, als ich bemerkte, dass er keineswegs oberflächlich über die tiefgreifenden Folgen des XX. Parteitages der KPdSU und die bisherigen Erfahrungen des Sozialismus vor allem auch in der Sowjetunion hinwegging, sondern daraus sehr weitreichende Schlussfolgerungen gezogen hatte. Mein Respekt und meine Achtung wuchsen in dem Maße, wie ich erkannte, dass er die Probleme nicht praktizistisch anging, um kurzfristige Erfolge zu verbuchen, sondern eine theoretisch durchdachte und begründete Konzeption verfolgte, die auf den langfristigen Erfolg des Sozialismus orientierte.
Mich beeindruckten nicht nur die Weitsicht und Konsequenz in seiner Politik, sondern auch die Umsicht und die Vorsicht, die er vor allem im Verhältnis zur KPdSU und zur Sowjetunion walten ließ. Dabei verzichtete er darauf, sich als großer Theoretiker aufzuspielen, der glaubte, alle Welt durch immer neue Weisheiten belehren zu müssen. Er erwies sich zunehmend als ein Politiker, der – aus einer langen praktischen Erfahrung schöpfend – auch im Alter noch fähig war zu lernen, überholte Auffassungen und dogmatische Vorstellungen zu überwinden und zukunftsweisende theoretische und praktische Ideen für die erfolgreiche Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft zu entwickeln.
Aus allen diesen Gründen bin ich der Meinung, dass Walter Ulbricht der bedeutendste politische Führer und Staatsmann der DDR-Geschichte war und ihm hohe
Weitere Kostenlose Bücher