Walter Ulbricht (German Edition)
»die Jugendarbeit« in Berlin zu organisieren hättest. Was ist darunter zu verstehen?
Zunächst half Walter mir, meine Mutter zu finden, die von der Roten Armee aus dem KZ befreit worden war. Nachdem ich kurz in Chemnitz bei meiner Familie gewesen war, meldete ich mich auftraggemäß bei Otto Winzer, der als Stadtrat für Volksbildung und Kultur eingesetzt worden war. Parteien waren noch nicht zugelassen, an Jugendorganisationen nicht zu denken. Beim Magistrat von Groß-Berlin sollte ein Hauptjugendausschuss aufgebaut werden, der die jungen Menschen »einsammelte«, sie beschäftigte und aus ihrer Apathie, die überall nach dem Ende des Hitlerreiches zu beobachten war, herausholte. Am meisten erschreckte mich der Zeitdruck, denn schon am 20. Juni wollte der Magistrat einen Beschluss über die Bildung und die Arbeitsweise des Jugendausschusses fassen – aber bis dahin sollten die ersten Schritte schon getan, die ersten Erfahrungen gewonnen worden sein.
Zum Glück fand ich Unterstützung durch junge Freunde, die zum Jugendausschuss stießen und aktiv mitarbeiteten. Ich denke besonders an Erich Ziegler, der zur Widerstandsgruppe Heinz Kapelle gehört hatte, zu lebenslanger Haft verurteilt und dann aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden war. Ich denke an Gerd Sredzki und Willi Betsch, an die Kameraden Herbert und Heinz Fölster, an meine jüdischen Freunde Siggi Sternberg und Klaus Rosenthal, der aus der englischen Emigration nach Berlin zurückgekommen war, an Gerhard Klein, der später Filmregisseur wurde und durch seinen Jugendfilm »Berlin – Ecke Schönhauser« bekannt wurde, an die jungen Sozialdemokraten Friedel Hoffmann, Gerhard Spraffke und Ilse Reichel, sie sollte von 1971 bis 1981 Senatorin für Jugend, Familie und Sport in Westberlin werden. Später stießen auch Vertreter der Religionsgemeinschaften zu uns, so der katholische Domvikar Robert Lange und der evangelische Pfarrer Oswald Hanisch.
Und zum Glück gab es die sowjetischen Jugendoffiziere, zum großen Teil selbst noch Komsomolzen, sehr gebildete junge Männer, die Deutsch sprachen, die deutsche Literatur gut kannten und gern in Diskussionsveranstaltungen auftraten, die wir organisierten. Sie ebneten uns zudem viele Wege bei den Behörden, später auch zu den alliierten Dienststellen in Westberlin, sie stellten Lebensmittel zur Verfügung und fanden Unterkünfte, die für die Jugendarbeit geeignet waren.
Hattest du in jenen Wochen auch mit Walter Ulbricht zu tun?
Selbstverständlich. Am Abend des 10. Juni trafen sich die Beauftragten des ZK der KPD, die im Mai nach Berlin gekommen waren, zum letzten Mal in der Prinzenstraße in Lichtenberg. Walter erläuterte uns den Befehl Nr. 2, den die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) erlassen hatte. Befehl Nr. 1 war am Vortag ergangen: Marschall Shukow hatte darin die Gründung der SMAD angeordnet und deren Struktur und Aufgaben formuliert. Mit Befehl Nr. 2 erlaubte Shukow in der sowjetisch besetzten Zone und in Berlin ab sofort die Tätigkeit demokratischer Parteien und Gewerkschaften. Einzige Bedingung: sie mussten entschieden antinazistisch zu sein. Ulbricht erläuterte uns, wie das zu werten sei. Nach seiner Interpretation signalisierte die Besatzungsmacht, dass sie das Land nicht nur nach Besatzungsrecht verwalten wollte, sondern von Anbeginn an der Mitarbeit deutscher Parteien und Organisationen interessiert war. Sie wünsche, so Walter Ulbricht, die Stärkung der deutschen Selbstverwaltungsorgane, die von der Bevölkerung getragen und gestützt werden müssten.
In den anderen Besatzungszonen wurde die Tätigkeit von Parteien erst Wochen, mancherorts Monate später erlaubt.
So war es. Walter kündigte also die Neugründung der KPD an und signalisierte die Veröffentlichung eines programmatischen Aufrufes, der gegenwärtig noch mit Stalin abgestimmt werde. Offenkundig ging das rasch: Er wurde bereits am nächsten Tag an die Öffentlichkeit gegeben. Er wurde an Litfaßsäulen und Häuserwände geklebt, auf Flugschriften und in der Berliner Zeitung , die seit dem 21. Mai erschien, veröffentlicht. Für mich und meine engsten Mitarbeiter war wichtig, dass darin zu Fragen der Jugend, zu ihren Rechten und Pflichten Stellung genommen wurde. Dabei war es nicht einmal das Allerwichtigste, dass wir nun mit diesem Aufruf in der Hand vor junge Menschen hintreten konnten, um mit ihnen über ihre eigenen Chancen und Aufgaben zu sprechen. Hätten wir dies so einfach und plump
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