Walzer, Küsse und Intrigen - Michaels, K: Walzer, Küsse und Intrigen
„Wir fahren nicht heim zum Grosvenor Square“, knirschte sie durch zusammengebissene Zähne, während sie sich fragte, welche Anwandlung sie bewogen hatte, auch nur einen Augenblick etwas wie mitleidige Nachsicht für diese Frau zu empfinden. „Ein Reisewagen mit deinem Gepäck ist samt deiner Zofe schon unterwegs. Wir bringen dich nach Dover, stopfen dich auf ein Schiff, und ab geht’s nach Italien. Da wirst du mindestens ein Jahr verbringen, und länger, wenn du dich nicht ordentlich beträgst. Rafe hat alles durch seine Bank vorbereiten lassen – einen Wohnsitz, Taschengeld, alles, was du benötigst.“
Ihre Mutter schnappte sichtlich nach Luft, und die Augen fielen ihr fast aus dem Kopf. „Was sagst du da?“
„Du hast richtig verstanden. Du hast Briefe geschrieben, und wehe, du fährst damit fort, dann wird Rafe dir deinen Wechsel streichen, und du kannst unseretwegen in Italien verschimmeln, so wenig interessierst du uns noch.“
„Wie kannst du es wagen? Halt die Kutsche an, hörst du!“ Helen sprang auf und wollte die Klingelschnur ziehen, die zum Kutschbock führte.
Geistesgegenwärtig stieß Nicole sie zurück in die Polster. „Bleib sitzen! Und ich schwöre dir, Maman , wenn du nicht ruhig bleibst, halte ich dir diese Pistole an den Kopf, die da praktischerweise neben mir in dem Fach steckt, mit gespanntem Hahn, und dann solltest du beten, dass der Wagen gut gefedert ist und nicht zu sehr holpert.“
Lady Helen Daughtry, die genug Erfolge und Niederlagen erlebt hatte, ging einen Augenblick in sich. „Du hast Briefe erwähnt. Es geht also um Lord Frayne, oder?“
„Hast du ihm geschrieben?“
Helen zuckte die Achseln. „Der eine oder andere Brief ist wohl ausgetauscht worden. Liebesbriefchen, die mir zusammen mit einer einzelnen Rose früh am Morgen schon zugestellt wurden.“ Sie lächelte selbstgefällig. „Der unartige Junge. Er bat mich sogar, seine Billets zu verbrennen. Ist das nicht romantisch?“
„Und sonst war da nichts? Nur Liebesbriefe?“
„Hier und da auch andere. Weißt du, er war ein guter Freund deines verstorbenen Onkels. Möglicherweise erwähnte ich mal, wie tragisch es war, dass er und deine lieben Neffen getötet wurden …“
„Sie ertranken !“, unterbrach Nicole.
„Ja, wenn wir es so ausdrücken wollen, gut, dann drücke ich es eben so aus. Sie ertranken. Hätte man mir sagen sollen.“
„Man hat es dir wiederholt gesagt.“
„Ach? Ich kann mich nicht erinnern.“ Plötzlich griff sie in ihr Retikül, holte eine kleine, mit Silberfiligran verzierte Flasche hervor und öffnete den Verschluss. Sie setzte sie an die Lippen und trank einen Schluck. „ Blue Ruin ! Gin, Schätzchen! Der Ruin der Unterschicht! Aber billig und wirksam. Wie, frage ich dich, könnte man den Tag sonst überstehen? Hoffentlich war Giselle klug genug, einen Vorrat davon einzupacken.“
Angewidert sah Nicole zu, wie ihre Mutter die Flasche wieder verschloss und wegsteckte.
„So, jetzt geht es mir besser! Italien, hast du gesagt? Gott, man spricht da nicht Englisch, was?“
Zwei kurze Unterbrechungen, um einen Happen zu essen, drei Pferdewechsel, und bei Einbruch der Nacht hielt Rafes Wagen im Hafen von Dover, direkt neben einem zweiten mit dem Wappen des Marquis of Basingstoke.
„Aha, daher weht also der Wind“, sagte Helen Daughtry, als sie ein wenig unsicher ausstieg. „Und wo ist der gute Marquis? Reserviert schon die Brautsuite in einem der Gasthäuser am Wege? Gut für dich, mein Mädchen!“
Nicole, die sich unterwegs öfter, als sie zugeben mochte, gefragt hatte, wo Lucas sein möge, tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört, sondern konzentrierte sich auf den kalten, frischen Hauch der Seeluft, den eine kräftige Brise vom Kanal her ihr entgegenblies, und staunte über die vielen Schiffe, die dicht an dicht an den Docks vertäut lagen und zum Auslaufen bereit auf die Flut warteten.
Ringsum herrschte lautes, hektisches Treiben, doch der Lärm und das Gekreisch der Möwen verhallte für Nicole, als Lucas hinter seiner Kutsche hervortrat und ihr ins Ohr flüsterte: „Du hast sie nicht umgebracht? Ich gratuliere dir zu so viel Seelenstärke und Geduld.“
„Lucas!“ Sie musste gegen den verräterischen, fast unerträglichen Drang ankämpfen, sich in seine Arme zu werfen und ihn anzuflehen, dass er ihre Mutter auf das nächste beste Schiff schaffen und ihr persönlich erlauben möge, die Trossen zu kappen. „Wo warst du nur?“
„Euch stets nur eine
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