Wandel
vorkamen. War das Parfüm, was ich da roch, und neues Leder, dem immer noch der scharfe Geruch der Gerbstoffe und der gummiartige Geruch vom Färben anhafteten? Ansonsten roch ich den staubigen, alten Raum. Die Heizung in der Kirche war noch nicht lange in Betrieb, ich roch deutlich den verbrannten Rauch, der immer aus den Ventilen austritt, wenn man einen Heizkörper einschaltete, der eine Weile unbenutzt herumgestanden hatte.
Jedenfalls brauchte ich nicht zu frieren, was mich froh stimmte. Hätte ich gefroren, hätte ich nichts dagegen tun können.
Die Kerze knisterte, flackerte ein letztes Mal auf und ging aus. Ich lag allein in der Dunkelheit.
Aus meiner Erinnerung starrte mich die blutüberströmte, alte Karikatur eines Mannes mit faltiger, von Leberflecken übersäter Haut an. Er grinste bösartig. „Stirb allein!“, flüsterte er.
Ich zitterte und schüttelte das Bild ab. Cassius war tot, da biss die Maus keinen Faden ab. Ich wusste es. Um mit mir gleichzuziehen, hatte sich Cassius, aus der Bruderschaft dementer Missgeburten ausgestoßen, die unter dem Namen Ritter des schwarzen Denarius agierten, mit einem durchgeknallten Nekromanten zusammengetan. Am Ende war es mir trotzdem gelungen, ihn zu bezwingen, er hatte jedoch, ehe er krepierte, einen Todesfluch ausgestoßen. So ein Fluch, ein Zauber, den jemand in den letzten Augenblicken seines Lebens ausstieß, konnte für das Opfer widerliche Folgen haben, aber eigentlich war Cassius ’ Fluch, ich möge alleine sterben, eine ziemlich vage Angelegenheit. Möglicherweise hatte er nicht einmal mehr genug Kraft und Konzentration besessen, ihn wirksam werden zu lassen.
Möglicherweise. Vielleicht aber doch.
„Hallo?“, sagte ich in die Dunkelheit hinein. „Ist da jemand?“
Da war niemand.
„Stirb allein.“
„Hör auf damit“, blaffte ich laut. „Reiß dich zusammen, Dresden.“
Zusammenreißen – das war das Richtige. Also fing ich an, langsam, konzentriert und gleichmäßig zu atmen, meine Gedanken zu ordnen, mich zu konzentrieren. Konzentration. Vorausdenken. Besonnenheit. Klarer Verstand. Nur so kam ich hier wieder raus.
Punkt eins: Meine Tochter befand sich immer noch in Gefahr.
Punkt zwei: Ich war verletzt, vielleicht schwer, vielleicht irreversibel. Selbst die Widerstandskraft eines Magiers hatte Grenzen. Gut möglich, dass ich die meinen überschritten hatte, als ich mir das Rückgrat brach.
Punkt drei: Martin und Susan allein konnten das Mädchen nicht befreien.
Punkt vier: Viel Hilfe durften wir nicht erwarten. Falls Sanya mitkam, wurde aus der eindeutigen Selbstmordaktion unter Umständen eine nur überwiegend eindeutige Selbstmordaktion, so ein Kreuzritter war kein Pappenstiel. Drei von der Sorte reichten ja offenbar, um die Welt zu beschützen, und der dunkelhäutige Russe besetzte seit ein paar Jahren alle drei Positionen, wobei er sich allem Anschein nach recht gut schlug. Was auf eine vage Art nur logisch war, denn Sanya war mit dem Schwert Esperacchiusbetraut, dem Schwert der Hoffnung. Hoffnung – Hoffnung brauchten wir jetzt mehr denn je, ich jedenfalls.
Punkt fünf: Meine magere Hilfstruppe – Sanya, Susan, Martin und wen ich vielleicht sonst noch mobilisieren konnte – schaffte es ohne mich nicht bis Chichén Itzá, und in meiner momentanen Verfassung konnte ich sie auf keinen Fall begleiten. Die Aufzeichnungen meiner Mutter erwähnten, dass man einen Teil des Weges schwimmend zurücklegen musste.
Punkt sechs: Ich war fest entschlossen, für meine Tochter da zu sein. Koste es, was es wolle.
Mit stand nur eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten offen.
Zunächst wählte ich die, die mir am wenigsten Angst einjagte. Ich schloss die Augen, achtete darauf, dass mein Atem gleichmäßig ging, und fing an, mir ein Zimmer vorzustellen, in dessen Boden mein wunderbarer, jetzt zerstörter Beschwörungskreis eingelassen war. Um den Kreis herum standen Kerzen, jeweils in gleichem Abstand zueinander, es duftete nach Sandelholz und verbranntem Wachs. Mir das alles so genau und detailliert vorzustellen und alles in meinem Kopf zu bewahren, als sei das Zimmer ebenso real wie der Raum, den das Bild ersetzen sollte, dauerte ein paar Minuten und erforderte ein erhebliches Maß an Konzentration und Disziplin.
Magie kam durchaus ohne Requisiten aus, obwohl man ja generell anderer Meinung zu sein schien. Das Gerücht mit den Requisiten hatte die Magier-Gemeinde selbst vor Jahrhunderten in die Welt gesetzt und seitdem fleißig verbreitet.
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