Wanderungen durch die Mark Brandenburg
auch das Fahnentuch auseinander,
das mir, anderer verdächtiger Anzeichen zu
geschweigen, sofort durch seinen gänzlichen Mangel
an Spinnweb auffiel. Denn eine richtige alte Fahne ist
immer so, daß man nicht recht weiß, wo das Seiden-
zeug aufhört und das Spinnweb anfängt. Und als das
Fahnentuch nun ausgebreitet vor mir lag, sah ich,
daß es einfach das Rohrsche Wappen war, was darin
prangte. So schwand die historische Glorie hin, die
bis dahin dieses Banner umgeben hatte. Sehr wahr-
scheinlich war es eine Fest- oder Einzugs- oder Wap-
penfahne, die bei irgendeinem Carrouselreiten von
irgendeinem jungen Rohr getragen worden war.
Mir aber erwuchs daraus ein neuer Beweis für die
hundertfältig beobachtete Tatsache, daß überall da,
wo Dorfbevölkerungen einem Gegenstande begeg-
nen, der Interesse weckt, ohne verstanden zu wer-
den, die »mythenbildende Kraft« sofort in Aktion
tritt. Ob die Dinge dabei lang oder kurz zurückliegen,
ist gleichgültig. Die Sage verfährt in allen Stücken
souverän; was sie aber am souveränsten behandelt,
das ist die – Chronologie.
710
Auf dem Plateau
Ganzer
Wohl hab ich euer Grüßen,
Ihr Ahnen mein, gehört;
Eure Reihe soll ich schließen,
Wohl mir, ich bin es wert.
Mit Tramnitz haben wir unsre Wanderungen an »Rhin
und Dosse« beendet und kehren nunmehr auf die
große Straße zurück, um mit Hülfe derselben das
Ruppiner Plateau von West nach Ost oder von der Prignitz bis zur Uckermark hin zu durchschneiden.
Die Dörfer und Städte, denen wir auf dieser Querlinie
begegnen werden, sind Ganzer, Gottberg, Kränzlin,
Lindow und Gransee.
Zunächst Ganzer, ehemaliger Besitz der Familie
Wahlen-Jürgaß, etwa zwei Meilen westlich von dem
Zietenschen Wustrau.
Beide Familien, die Zieten und die Jürgaß, waren
recht eigentlich ruppinsche Geschlechter, seßhafte
Leute, die, durch die Jahrhunderte hin, schlicht ge-
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lebt und treu gedient und den Boden ihrer Väter in
Ehren gehalten hatten. Hans Zieten zu Wildberg, wie
schon in unsrem Wustrau-Kapitel hervorgehoben,
war Geschworner Rat des letzten Grafen zu Ruppin
und begleitete diesen auf den Wormser Reichstag,
um dieselbe Zeit aber saßen auch schon die Jürgaß
auf Ganzer und werden 1525 urkundlich genannt.
Von da ab gehen die Zieten auf Wustrau und die Jür-
gaß zu Ganzer in Leid und Freud mit- und nebenein-
ander, um schließlich auch, wie ein altes Paar, ge-
meinschaftlich in den Tod zu gehen. Nur um anzu-
deuten, wie vielfach beide Familien versippt und
verschwägert waren, stehe hier das Folgende. Die
Mutter des berühmten alten Zieten war Ilsabe Katharina von Jürgaß aus dem Hause Ganzer (gebo-
ren 1666), und die erste Frau des alten Zieten war wiederum eine Jürgaß (Leopoldine Judith, geboren 1703). Aus dieser Ehe, zwischen Hans von Zieten
und Judith von Jürgaß, ward eine Tochter geboren,
Fräulein Johanna von Zieten, die sich mit Karl von
Jürgaß vermählte, der seinerseits wieder ein Sohn
Joachims von Jürgaß aus seiner Ehe mit Luise von
Zieten war.
Man wird an diesem einen Beispiel erkennen, daß die
Verwandtschaft oft fünf- und sechsfach und in ihren
verschiedenen Graden gar nicht mehr zu verfolgen
war. Es waren nur noch zwei Familien dem Namen
nach, während längst dasselbe Blut in den Adern
hüben und drüben floß.
Ganzer selbst ist ein noch übriggebliebenes Muster-
stück aus jener Zeit her, wo die Dörfer im Ruppin-
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schen, oder doch viele von ihnen, nicht aus einem
Rittergute, sondern aus zwei, vier und selbst sechs
Edelhöfen bestanden, die dann freilich sehr viel mehr
einem Bauernhof als einem Rittergute glichen. Auch
Ganzer gehörte seinerzeit vier Familien, und zwar den von Jürgaß, von Rohr, von Kröcher und von
Wuthenow, aus welcher Vierteilung später eine
Zweiteilung ward, indem der ganze Grundbesitz,
durch Kauf oder Tausch oder Erbschaft, an die Rohr
und die Jürgaß überging. Das war ohngefähr zu An-
fang des vorigen Jahrhunderts, und diesen Charakter
eines zweigeteilten Besitzes hat sich das Dorf in ei-
ner so markanten und zugleich so malerischen Weise
gewahrt, wie mir kein zweites Beispiel in der Graf-
schaft bekannt geworden ist.
Wir halten vor dem Dorfeingang und schwanken, ob
wir unser Fuhrwerk nach links oder rechts hin lenken
sollen, denn scharf einander gegenüber erblicken wir
zwei Krugwirtschaften, jede mit dem üblichen Vor-
bau, jede mit einer Anzahl Stehkrippen und jede mit
einem
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