Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Ru-
dolfs von Habsburg, der als Akoluth des Klosters ver-
starb, behauptet – auch in künstlerischer Beziehung
1686
ein interessantes Überbleibsel aus geschwundener
Zeit – seinen Ehrenplatz an alter Stelle. Sein Grab-
stein liegt mitten im hohen Chor. Die Erinnerungszei-
chen an Abt Sibold sind zerstört; seine Begräbnis-
kammer, die noch im vorigen Jahrhundert existierte,
ist niedergerissen, und statt des Grabsteins des Er-
mordeten, der fünf Jahrhunderte lang seinen Namen
und die Daten seines Lebens bewahrt hatte, erzählen
nur noch die beiden alten Bilder im Querschiff die
Geschichte seines Todes. Diese Bilder, wichtig wie
sie sind, sind alles andre eher als ein Schmuck. Zu
dem Grauen über die Tat gesellt sich ein Unbehagen
über die Häßlichkeit der Darstellung, die diese Tat
gefunden. Das ursprünglich bessere Bild ist kaum
noch erkennbar.
Es ist ein trister Aufenthalt, diese Klosterkirche von
Lehnin, aber ein Bild anheimelnder Schönheit tut sich
vor uns auf, sobald wir aus der öden, freudlosen Kir-
che mit ihren hohen, weißgetünchten Pfeilern ins
Freie treten und nun die Szenerie der unmittelbaren
Umgebung: Altes und Neues, Kunst und Natur, auf
uns wirken lassen. Innen hatten wir die nackte, nur
kümmerlich bei Leben erhaltene Existenz, die trister
ist als Tod und Zerstörung, draußen haben wir die
ganze Poesie des Verfalls, den alten Zauber, der ü-
berall da waltet wo die ewig junge Natur das zerbrö-
ckelte Menschenwerk liebevoll in ihren Arm nimmt.
Hohe Park- und Gartenbäume, Kastanien, Pappeln,
Linden, haben den ganzen Bau wie in eine grüne
Riesenlaube eingesponnen, und was die Bäume am
Ganzen tun, das tun hundert Sträucher an hundert
einzelnen Teilen. Himbeerbüsche, von Efeuranken
1687
wunderbar durchflochten, sitzen wie ein grotesker
Kopfputz auf Säulen und Pfeilerresten, Weinspaliere
ziehn sich an der Südseite des Hauptschiffs entlang,
und überall in die zerbröckelten Fundamente nestelt
sich jenes bunte, rankenziehende Gestrüpp ein, das
die Mitte hält zwischen Unkraut und Blumen. So ist
es hier sommerlang. Dann kommt der Herbst, der
Spätherbst, und das Bild wird farbenreicher denn
zuvor. Auf den hohen Pfeilertrümmern wachsen E-
bereschen und Berberitzensträucher, jeder Zweig
steht in Frucht, und die Schuljugend jagt und klettert
umher und lacht mit roten Gesichtern aus den roten
Beeren heraus. Aber wenn die Sonne unter ist, ge-
ben sie das Spiel in den Trümmern auf, und wer
dann das Ohr an die Erde legt, der hört tief unten die
Mönche singen. Dabei wird es kalt und kälter; das
Abendrot streift die Kirchenfenster, und mitunter ist
es, als stünde eine weiße Gestalt inmitten der roten
Scheiben. Das ist das Weiße Fräulein, das umgeht,
treppauf, treppab, und den Mönch sucht, den sie
liebte. Um Mitternacht tritt sie aus der Mauerwand,
rasch, als habe sie ihn gesehn, und breitet die Arme
nach ihm aus. Aber umsonst. Und dann setzt sie sich
in den Pfeilerschatten und weint.
Und unter den Altangesessenen, deren Vorfahren
noch unter dem Kloster gelebt, ist keiner, der das
Weiße Fräulein nicht gesehn hätte. Nur die refor-
mierten Schweizer und alle die, die nach ihnen ka-
men, sehen nichts und starren ins Leere. Die Alt-
Lehninschen aber sind stolz auf diese ihre Gabe des
Gesichts, und sie haben ein Sprüchwort, das diesem
Stolz einen Ausdruck gibt. Wenn sie einen Fremden
1688
bezeichnen wollen oder einen später Zugezogenen,
der nichts gemein hat mit Alt -Lehnin, so sagen sie nicht: »Er ist ein Fremder oder ein Neuer«, sie sagen
nur: »Er kann das Weiße Fräulein nicht sehn.«
Die Lehninsche Weissagung
Jetzo will ich, Lehnin, dir sorgsam singen die Zukunft, Die mir gewiesen der Herr, der einstens alles geschaffen.
» Vaticinium Lehninense«
Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, während der
Regierungsjahre Friedrich Wilhelms I., erschienen an
verschiedenen Druckorten, teils selbständig, teils
umfangreicheren Arbeiten einverleibt, 100 gereimte
lateinische Hexameter, sogenannte Leoninische Ver-
se, die in dunklem Prophetenton über die Schicksale
der Mark und ihrer Fürsten sprachen und die Über-
schrift führten: »Weissagung des seligen Bruders
Hermann, weiland Lehniner Mönches, der ums
Jahr 1300 lebte und blühte«.
Diese Verse, die sich gleich selbst, in ihren ersten
Zeilen, als eine Weissagung ankündigen: »Jetzt
weissage ich dir, Lehnin, dein künftiges Schicksal«,
machten
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